Murray, Paul
spätabends alte Filme
anschauen durfte. Mutter hat mich aufgelassen, weil ich ihr erzählt hatte, dass
das gut für mein Englisch sei. Aber eigentlich hab ich sie deshalb so gern
gesehen, weil alles so wunderschön aussah in Schwarzweiß.« Sie lächelte
verschämt. »Ich bin immer richtig wütend geworden, wenn Dorothy nach Oz
gekommen ist, weil da die Welt in Farbe war, und das mochte ich nicht. Ich
wollte lieber, dass sie zurück nach Kansas geht.«
Ich sagte
nichts dazu, aber im Innern klatschte mein Herz in die Hände und rief: »Jaa,
ich auch, ich auch!«
»Egal, ich
steh also in dem Blumenbeet und schau dich an. An deinem Gesicht konnte ich
genau ablesen, was gerade passierte. Wenn du böse geschaut hast, dann wusste
ich, dass der Mörder gerade die Witwe tröstet, oder du hast die Hände vors
Gesicht geschlagen, wenn die Pistole über den Boden geschlittert ist, oder
gelächelt, wenn der Held das Mädchen küsst...« Sie lachte wieder und holte
Luft. »So hat's zumindest für mich ausgesehen. Danach hab ich angefangen, im
Programmheft alle Filme anzukreuzen, die du dir vielleicht anschaust, und
abends hab ich mich dann aus dem Turm geschlichen und bin zum Fenster gegangen,
immer nur ein paar Minuten. Ich hab mir vorgestellt, ich sitze neben dir, und
ich bin zu Hause; Feuer im Kamin, ein Glas Rotwein.« Sie wiegte sich leicht
vor und zurück und beugte sich etwas über den Tisch. »Sei ehrlich, Charles«,
sagte sie leise. »Ist das zu viel verlangt?«
»Ganz und
gar nicht«, sagte ich. »Ganz und gar nicht.«
Sie stand
auf und ging um den Tisch herum auf meine Seite, strich sich mit einer Hand das
Haar zurück und schaute mich ernst an. Es war, als erhöbe sich das Universum
vor mir - wie ein Pferd an einem hohen Zaun. »Was müsste passieren, Charles,
damit du mich küsst?«, fragte sie.
Ich dachte
darüber nach. Ich dachte über alles nach, was heute Abend und was vor heute
Abend geschehen war. An und für sich sollte ich nicht mal in einem Raum mit ihr
sein. Trotzdem - ich weiß, das ist unsinnig - hatte ich das Gefühl, dass das
Mädchen, das in diesem Augenblick vor mir stand, mit all den grässlichen
Ereignissen des heutigen Abends gar nichts zu tun hatte, dass eine andere, die
echte Mirela, vor mir stand: das Mädchen, dem ich in jener Nacht im Turm zum
ersten Mal begegnet war und das seither jede Nacht vor meinem geistigen Auge erschienen
war.
»Du
müsstest dein Glas abstellen«, sagte ich.
Mit einer
einzigen geschmeidigen und gelassenen Bewegung stellte sie erst das Glas auf
den Tisch und löschte dann das Licht der Laterne. Dann nahm sie meine Hand und
geleitete mich in die Dunkelheit.
Ich möchte
Sie bitten, sich jetzt eine Abblendung vorzustellen oder eine dieser diskreten
Sternchenreihen, die das Verstreichen von Zeit andeuten - nicht sehr viel Zeit,
zugegebenermaßen, da einer von uns beiden aus der Übung war und vielleicht auch
etwas zu erregt. Egal, wir steigen wieder ein in die Szene an dem Punkt, als
die beiden Protagonisten nebeneinander in den Kissen liegen, die Bettdecke
züchtig hochgezogen bis zum Kinn und durch die Tür stumm beobachtet von einem
ausgestopften Otter und dem Kopf eines Porzellanbassets, der unter einer
zerschlissenen Gingham-Tischdecke hervorlugt. Es herrschte vollkommene Stille -
als ob in der großen weiten Welt niemand wach sei außer uns beiden, als ob wir
der Welt ein Schnippchen geschlagen hätten. Und obwohl da draußen unsere
Probleme immer noch die gleichen waren, so gehörten diese Augenblicke doch ganz
uns, und es lag an uns, wie sie verstreichen würden. Nach so viel Tumult war es
einfach schön, nichts reden oder denken zu müssen.
Zwischen
zwei langen Spannen völliger Gedankenleere ging mir träge die Frage durch den
Kopf, was ich ihr morgen zum Frühstück anbieten könnte. Ich hatte vorgestern
einen Käsekuchen gekauft, von dem noch etwas im Kühlschrank sein müsste. Doch
plötzlich tauchte ihr nackter Arm über mir auf und zupfte den Büstenhalter vom
Lampenschirm. »Was machst du da?«, brummte ich verschlafen.
»Ich muss
los«, flüsterte sie.
»Du musst los!«, sagte ich
und schaute sie blinzelnd an. Kein Zweifel, sie machte sich klar zum Aufbruch.
»Es ist mitten in der Nacht.«
»Harry
fragt sich sicher schon, wo ich bin.«
Nur den
Namen zu hören, fühlte sich an wie ein Messer zwischen den Rippen. Ich rang
dezent nach Luft und umklammerte meine Brust. Doch das war nicht der Moment für
theatralische Spielchen. Plötzlich war sie
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