Murray, Paul
trägt, bringt ihre Vollkommenheit so schlicht und unaussprechlich zur
Geltung, als wäre sie eine Antwort auf alle Fragen oder Zweifel, die je ein
Mensch gehabt haben mag; so unaufdringlich überwältigend, dass Howard seinen
Hass auf sie vergisst, ihn Freude, Dankbarkeit, Erleichterung durchströmen,
zumindest bis es ihm dämmert, dass das weiße Männerhemd vermutlich ihrem
Verlobten gehört.
»Ist ja schon ein Weilchen her«, sagt sie, vom Ausbleiben
einer Erwiderung offensichtlich nicht weiter irritiert.
»Was tust du denn hier?« Kaum ist es heraus, kommt ihm der
entsetzliche Gedanke, dass der Automator sie als seine Vertretung einbestellt
hat - eine Vorstellung von solch komplexer Ironie, dass sein Hirn sich anfühlt
wie knapp vor dem Kurzschluss; doch dann erfährt er von ihr, dass sie mit den
Schülern aus der Dreizehnten über Karrieremöglichkeiten im Bereich
Investmentbanking und mit Greg über die Wertpapieranlagen der Schule sprechen
will. Sie streicht sich eine goldblonde Locke aus dem Gesicht. »Wie ist es dir
so ergangen, Howard?«
Wie es ihm ergangen ist? Fragt
sie das im Ernst, nachdem sie sein Leben in ein Schlachtfeld verwandelt hat?
Offenbar ja. Ihre ozeanblauen Augen begegnen ihm mit grenzenloser Anteilnahme;
die Sonne in ihrem Rücken lässt die Konturen ihres Gesichts aufleuchten,
verwandelt sie in eine Lichtgestalt. Und Howard kann keinen Ring an ihrem
Finger entdecken. Ist das Schicksal etwa doch noch nicht ganz mit ihm fertig?
Ist sie eben rechtzeitig zurückgekehrt, um mit ihm in den Sonnenuntergang
davonzureiten? Kann wie durch ein Wunder am Ende doch
noch alles gut werden!
»Mir ging's schon mal besser«, sagt er schroff. »Wir haben
in letzter Zeit einiges durchgemacht. Das mit Daniel Juster hast du gehört?«
»Mein Gott, ja, das war schrecklich.« Mit gedämpfter
Stimme fährt sie fort: »Dieser abscheuliche Pater ... Was werden sie deswegen unternehmen?«
Bei der Frage zieht es ihm die Eingeweide zusammen.
»Nichts«, sagt er. »Sie haben beschlossen, nichts zu unternehmen.«
Sie überlegt einen Moment. »Kluger Schachzug, vermutlich«,
lautet ihr Urteil.
»Wie steht's
mit dir? Gibt's was Neues?«
»Ach, weißt du ...« Ihr Blick tänzelt über die brutale
Ziegelfassade des Anbaus. »Eigentlich nicht. Arbeit eben. Ist okay. Ein
bisschen fade. Es ist schön, wieder hier zu sein. Ich hab schon vergessen, wie
viel Spaß es mir gemacht hat, Lehrerin zu spielen.«
»Nie in Versuchung gewesen, zurückzukommen?«, fragt er, absichtlich
doppeldeutig für den Fall, dass sie darauf einsteigt.
Sie lässt ihr wohlklingendes Lachen hören. »Ach nein, ich
glaube nicht. Ich bin nicht wie du, Howard, mir fehlt die Berufung dazu.«
»Die Jungs mochten dich.«
»Sie mochten meine Titten«, sagt sie. »Das ist nicht
dasselbe.«
»Ich mochte dich auch.«
»M-hm.« Eine Hand über den Augen, blickt sie auf den Parkplatz
und die winterlich kahlen Bäume. »Kaum zu fassen, dass es schon fast
Weihnachten ist. Die Zeit fliegt nur so
dahin, oder? Immer schneller und schneller. Eh wir's uns versehen, sind wir
alle im Pflegeheim.«
Howard findet das Gespräch zunehmend frustrierender. Soll
das etwa so lieb und nett und höflich weitergehen? »Weißt du«, sagt er, »wir
sind eigentlich nie zum Reden gekommen.«
»Zum Reden?«
»Ich wollte mir deine Telefonnummer besorgen, nach ...« Er
gerät ins Stocken; sie begutachtet prüfend erst sein eines, dann sein anderes
Auge, als hätte sie einen Irren vor sich. »Ich habe meine Freundin verlassen«,
platzt er heraus.
»Oh Howard. Das
tut mir aber leid. Sie klang so nett.«
»Herrgott noch mal ...« Er dreht sich kurz von ihr weg,
damit sie nicht sieht, wie er mit den Zähnen malmt und zwanghaft die Fäuste
ballt. »Muss dass wirklich sein? Erwartest du wirklich von mir, alles zu
vergessen?«
»Was zu vergessen?«
»Aha, also ja und ja, okay.«
»Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.«
»Du sollst nicht so tun, als wäre zwischen uns nichts gewesen!«,
stößt Howard hervor.
Sie gibt keine Antwort, macht bloß einen spitzen Mund wie
jemand, der auf einer langen Reise eine unzuverlässige Benzinuhr beäugt.
»Wie konntest du bloß einen Verlobten haben? Wer macht denn so was?« Er hat noch immer den Stapel Bücher aus
seinem Fach auf dem Arm; als er ihn auf dem Auto abstellt, kippt er um und
verteilt sich über das Dach. »Ich meine, war von dem, was du gesagt hast,
irgendwas wahr? Hast du überhaupt irgendwas für mich empfunden?
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