Muscheln für Mutti: Roman (German Edition)
Zimmer.
Dienstag, 10. Februar
GESICHT WAHREN IN SAIGON C
Jana wirkt immer noch mürrisch, also halte ich Abstand, als wir gegen 8 Uhr in den Linienbus Richtung City einsteigen. Selbst wenn ich sie verstimmt haben sollte, was ist denn das für ein unprofessionelles Verhalten für eine Reiseleiterin? Was auch immer uns verbindet, es scheint mir gerade nicht sonderlich virtuos verknüpft. Vorgestern noch voller Wärme, jetzt abgekühlt, wechselhafter als ein deutscher Sommer – so launisch kann doch keine Frau sein!
Toni dagegen strahlt wie immer schon am frühen Morgen, umso mehr mit Blick auf meine Schwestern, als er über seine Geburtsstadt spricht.
» Saigon ist das Zentrum von Vietnams Selbstwahrnehmung. Auf das Schönheitsideal weißer Haut wird hier ganz besonders geachtet.«
» Oh, Toni«, kokettiert Kristin, » wenn Antje und ich dich in die Mitte nehmen, färbt die Schönheit dann auf dich ab?«
Tonis Mimik deute ich als klares »Ja«.
Kristin kneift ihm in die Wange. » Du bist echt ein süßer Fratz!«
Antje freut sich wie eine Schneekönigin. » Ich bin ja sooo schön!«
Während alle anderen bisher etwas mehr oder weniger Bräune nicht ausweichen konnten, hat allein Antjes Haut das blasse Ideal durchgehalten. Ja, eigentlich wirkt sie wie in Deckweiß getunkt.
» Und damit das so bleibt, musst du dich auch weiterhin eincremen«, sagt Mutti.
Antje zupft sich am Unterarm. » Ich habe kein Problem mit meiner Haut.«
» Obwohl du zu wenig davon hast«, grient Kristin.
Die Vietnamesinnen versuchen, diese käsige Attraktivität mit einem Gesichtsschutz zu bewahren, den sie immer und überall gegen die Sonne tragen. Nun ja, hübscher macht sie die Maskierung nicht, sogar hier im Bus sind Mund und Nase bedeckt.
Mutti hat ihre eigene Sicht der Dinge, als sie die junge Frau neben sich anspricht.
» Entschuldigung, sind Sie etwa Chirurgin und auf dem Weg in den OP ?«
Saigon wird sie also genannt, oder Ho-Chi-Minh-City, die bedeutsame vietnamesische Großstadt. Ihre Historie flößt mir Respekt ein, schließlich führte die Einnahme durch den Norden 1975 zum Ende des Vietnamkrieges und zur Wiedervereinigung des Landes. Immerhin acht Millionen Menschen leben hier – Saigon ist mehr denn je quirliger Mittelpunkt des Handels und der Industrie Vietnams. Das sagt zumindest Toni, und er wird’s ja wissen.
Auf den Straßen wirkt alles schnell und geschäftig, was kein Wunder ist, da die Hälfte der Einwohner ein Moped unterm Hintern hat.
» Die Bremsen dürfen ruhig mal versagen. Wichtiger ist, dass die Hupe immer funktioniert«, erläutert Toni wie selbstverständlich.
Wirklich, die Straße zu überqueren ist noch schwieriger als in Hanoi. Drei Reihen Mopeds fahren nebeneinander, in der Gegenrichtung sind es ebenso viele, dazwischen Autos und sogar einige wagemutige Radfahrer. Trotz dieser Asphalt-Anarchie fließt der Verkehr.
Der »Trick« als Fußgänger besteht darin, einfach stur geradeaus zu laufen, im Prinzip Augen zu und durch. Klar, dazu gehört Mut, mein Eindruck ist: Nur wer ständig in Bewegung bleibt, kann von den Fahrern eingeschätzt werden. Wer plötzlich bremst, verliert hier tatsächlich. Außerdem müssen wir auf die Mopeds achten, die auf dem Fußweg fahren, weil sie nicht mehr auf die Straße passen.
» Wenigstens die dürfen uns nicht anhupen, auf dem Fußweg gehört sich das ja wohl nicht«, sage ich beruhigend zu Mutti.
Es ist luftfeucht, nein, sehr luftfeucht, als wir den Stadtbus verlassen – dank Toni an der richtigen Haltestelle, denn die Schriftzeichen sind für uns so verständlich wie ägyptische Hieroglyphen. Rathaus, Altes Postamt, Kathedrale, Ben-Tanh-Markt: In der Innenstadt sind die Sightseeing-Spots gut zu erlaufen. Ja, die Gebäude wirken sehr interessant, aber als richtig aufregend empfinde ich sie nicht. Die Stadt ist insgesamt angenehm, dennoch fehlt mir ein eigenes Flair. Das bestätigt mir auch der Panoramablick, den wir von der Terrasse des Luxus-Hotels Continental haben.
Hier arbeiteten im Vietnamkrieg Korrespondenten wie Peter Scholl-Latour mit Kamera, Schreibmaschine und Filmteam. Harald, natürlich, er weiß das nicht nur aus dem Reiseführer.
» Scholl-Latour hat seine Erfahrungen im Buch Der Tod im Reisfeld festgehalten. Gestern vor dem Einschlafen hab ich’s noch mal nachgelesen«, entsinnt sich unser Schlaumeier, » im Vorwort schreibt er: Die Terrasse des Continental war einst Treffpunkt, Nachrichtenbörse und Liebesmarkt einer lärmenden
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