Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
irgendwo am Meer. Mit Markus.«
Jetzt bloß schnell das Gespräch beenden, keine Schwäche zeigen, keinen Raum für weitere ins Gewissen bohrende Fragen lassen. Aber im Sand buddeln, Kitesurfen und Weißwein trinken klang tatsächlich verführerisch.
»Viel Glück!«, wünschte sie mir noch mit brüchiger Stimme, und ich legte mit Tränen in den Augen auf.
»Ich finde es cool, was du wieder vorhast«, sagte die nächste Freundin für meinen Geschmack etwas zu fröhlich. »Abgefahren. Ich kenne niemanden, der so etwas macht.« Die Art, wie sie »so etwas« in die Länge zog, irritierte mich.
»Wie meinst du das?«
»So verrückt. Wer traut sich das schon. Mit Baby. Von Sankt Petersburg nach Peking. Das ist ja als Paar schon eine Abenteuerreise. Aber als Frau. Mit Baby. Echt mutig.«
»Meinst du fahrlässig?«, fragte ich zögerlich.
»Quatsch.« Dann Stille.
»Bist du noch dran?«
»Meine Schwester denkt, du spinnst. Ich finde es okay. Ich möchte auch solche Reisen machen, aber mir fehlt zurzeit der Partner dafür. Der mich im Zweifel beschützen kann. Pass auf euch auf!«
Meine Hände umklammerten das Telefon. Meine Füße liefen um den Küchenblock. Ich dachte an das intensive Gefühl vergangener Reisen, das mich so oft genährt hatte. An das Kribbeln vor jeder Abreise. An den trotz gegenteiliger Prognosen erfolgreich absolvierten Organisationsmarathon der letzten Wochen. An Levi.
Und jetzt sitze ich hier. Es ist ein Uhr nachts, sieben Stunden vor unserem Aufbruch zum Münchner Flughafen. Eingekeilt zwischen einer großen schwarzen aus allen Nähten platzenden Reisetasche, einem prall gefüllten Seesack, einem Kinderwagen, einer Kameratasche, einem Laptop sowie einem auf dem Sofa eingeschlafenen Markus.
»Im Zweifel für die größere Veränderung«, sage ich in die Stille der Wohnung, steige die Treppe hoch und beobachte meinen Sohn, der im Schlaf lächelt und zufriedene Laute von sich gibt.
2
VON SANKT PETERSBURG DURCH SIBIRIEN NACH IRKUTSK: ÜBER MENSCHEN AUF DER SUCHE NACH IHREN TRÄUMEN
Guten Morgen, Ural: Die längste Eisenbahnstrecke der Welt
Ich wache auf, und da ist dieser ohrenbetäubende Lärm. Mein gesamter Körper vibriert. Rhythmisch. Meine Knie sind angewinkelt, und meine Füße stoßen trotzdem an eine beige Plastikwand am Ende meiner Matratze. Meine rechte Hand drückt oberhalb meines Kopfes gegen eine zweite beige Plastikwand. Ein gelber Bibo-Schnuller drückt gegen meine Stirn, und meine Nase registriert einen milchigen Luftzug.
Die erste Nacht in der Transsibirischen Eisenbahn ist vorbei.
Die letzten Stunden habe ich mit Levi auf 55 Zentimeter Breite und 180 Zentimeter Länge verbracht. Wir haben zwar ein vier Quadratmeter großes Zweite-Klasse-Abteil für uns allein – und somit vier optionale Schlafstätten, zwei Bänke unten, zwei ausklappbare Pritschen darüber. Alle jedoch ohne Runterfallschutz. Meine Rolle für die kommenden fünf Nächte ist definiert: Ich bin das Gitter zum fehlenden Babybett.
Ich hebe meinen Kopf, um aus dem Fenster zu schauen, schlage mit selbigem gegen die Kante des Tischchens, das unterhalb des Fensters zwischen den zwei unteren Bänken angebracht ist, zucke vor Schmerz unkontrolliert zusammen, drehe dabei meine linke Hüfte entscheidende Zentimeter zu weit nach links, strample mit den Füßen gegen die Schwerkraft und spüre, wie das rhythmische Rattern meinem Körper den entscheidenden Schubs in die falsche Richtung gibt: Mit einem Plumps lande ich auf dem im persischen Stil ausgelegten Boden: Guten Morgen, Ural!
Der blau-golden gemusterte kleine Vorleger, auf dem ich sitze, erinnert mich an meine romantischen Vorstellungen von Transsibirischer Eisenbahn und an unsere Mission. Die Zeitschrift La France hatte 1901 zur Fertigstellung der 9288 Kilometer langen transsibirischen Eisenbahnroute gejubelt, dass die Geschichte neben der Entdeckung Amerikas und dem Bau des Sueskanals kein weiteres Ereignis kenne, das so große direkte und indirekte Konsequenzen auf die Welt haben würde. Im 21. Jahrhundert hoffe vermutlich nur ich auf erste Impulse für ein neues Leben.
Ich reibe mir die Knie. Laut Mobiltelefon ist es fünf Uhr morgens.
Vor sechzehn Stunden waren wir nach einer Woche in Sankt Petersburg im mit großen Rundbögen und schnörkeligem Stahl verzierten Moskauer Bahnhof in den Zug Nummer 10 eingestiegen, der uns in fünf Tagen und vier Nächten nach Irkutsk bringen würde – wenn nichts dazwischenkam. Der Taxifahrer hatte in dem Meer aus
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