Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
nichts.
Wir sollen Ausschau halten nach einer seltenen Art von Springböcken und nach Halbedelsteinen. Machen wir. Nichts zu sehen.
Unser Beschluss, schnurgerade nur in eine Richtung zu laufen, um nicht verloren zu gehen, scheitert relativ schnell an der Bodenbeschaffenheit und an all den faszinierenden Felsen und Hügeln und den vermuteten Ausblicken darauf und dahinter. Also fangen wir an, Steine aufeinanderzuschichten. So wie es überall auf der Welt von Wanderern zu Orientierungszwecken gemacht wird. Je weiter man östlich reist, desto mehr wird insbesondere von westlichen Reisenden etwas Mystisches in diese Steinhaufenmännchen hineininterpretiert. Da sei aber nichts dran, hat mir mein nepalesischer Freund Niraj versichert.
Als sich ein besonders hoher Felsen vor uns auftürmt, schlage ich vor hinaufzusteigen, um das Camp zu orten. Kaum stehen wir schnaufend oben, stellen wir fest, dass unsere Jurte sich 60 Grad weiter rechts befindet als vermutet.
Berauscht von der Vorstellung, im Nichts unterwegs zu sein, und das auch noch ohne Ziel und Plan, stapfen wir weiter. Alle paar Minuten stapeln wir Steine aufeinander und machen Orientierungsfotos von den sich zum Verwechseln ähnlich sehenden mongolischen Hügeln.
Einmal deutet Markus auf einen seiner Meinung nach besonders prägnanten Felsen und sagt: »Schau dir den Felsen genau an und schließe die Augen.« Dann dreht er mich mehrmals im Kreis, lässt mich die Augen wieder öffnen und bittet mich, den Felsen zu identifizieren.
»Der da, ganz klar!«, sage ich triumphierend. Es ist der Falsche.
Auch Markus besteht den Test nicht.
Voller Vorfreude auf die Suche nach dem Rückweg stapfen wir Steinmännchen schichtend weiter. Im mongolischen In-sich-Hineinhören, um das Camp zu finden, fühlen wir uns noch nicht sicher genug. Wir sind ja auch erst ein paar Tage in der Mongolei. Mit jedem Schritt wächst die latente Sorge, vielleicht verloren zu gehen. Gleichzeitig treibt uns der Gedanke, dass so viele Menschen vor uns hier bestimmt noch nicht lang gelaufen sind, Glücksblitze durch die Körper.
Erschöpft und verschwitzt setzen wir uns in den Schatten eines Felsvorsprungs und beobachten eine Herde Wildpferde. In der Ferne meinen wir einen See ausmachen zu können.
»Komisch, auf der Karte war überhaupt kein See verzeichnet?«, sage ich.
»Lass uns zum Wasser laufen und baden«, schlägt Markus vor.
»Ganz schön weit«, gebe ich, zu faul zum Aufstehen, zu bedenken.
Also bleiben wir im Schatten sitzen und beobachten, wie die Uferlinie des Sees sich verändert.
»Das sind die Schatten der Wolken«, sage ich halb überzeugt. »Oder eine Fata Morgana?«
Als die Abenddämmerung einsetzt, finden wir mit einem Kribbeln der Erleichterung im Bauch das letzte Steinmännchen und können die weißen Jurten zwischen den Steinbergen aufblitzen sehen. Auf meinem morgendlichen Geierfelsen funkelt etwas in der untergehenden Sonne. Wie die Reflexion von Glas. Zuerst sehen wir den Hund, dann den Campmanager, wie er mit dem Fernglas nach uns Ausschau hält. Als wir winken, verschwindet das Funkeln.
»Wie war’s?«, läßt Xexen uns durch Nara beim gemeinsamen Abendessen vor der Küchenjurte fragen.
»Großartig!«
»Was habt ihr gesehen?«
»Nichts!«
»Ahaaaa?!?« Woraufhin er kurz im Inneren der Jurte verschwindet und mit einer Handvoll Halbedelsteine wiederkommt. »Die findet man hier überall«, sagt er mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck zu den offensichtlich blinden Touristen. Dann lacht er und sagt: »Die Mongolei ist ein reiches Land!«
Später liege ich in der Jurte neben meinen zwei schlafenden Männern und versuche im flackernden Licht einer fast heruntergebrannten Kerze zu lesen. Obwohl das Buch spannend ist – Die Entdeckung des Himmels von Mulisch –, driften meine Gedanken zu unserer Mission. Bei meiner morgendlichen Kletterei hatte ich mich ertappt: Super, dass Markus mich unterstützt, hatte ich gedacht. Dass er auf Levi aufpasst und ich klettern gehen kann.
Was für ein Bullshit.
Warum fühle ich mich als Hauptverantwortliche gegenüber Levi? Warum empfinde ich Markus’ Engagement als Unterstützung? Warum nehme ich mein zeitliches Engagement für Levi als den Normalfall und tendenziell rabenmuttermäßig immer zu wenig wahr, während Markus schon Standing Ovations bekommt, wenn er nur mal mit dem Kinderwagen in den Supermarkt zum Einkaufen rollt? Hallo!?! Das ist doch Gedankengut aus dem Mittelalter!
Warum denke ich so? Und schlimmer
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