Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
noch: Warum fühle ich so? Ist es nicht normal, dass beide Eltern sich zu gleichen Teilen um ihr Kind kümmern? Gedanklich und de facto? Zumindest hatten Markus und ich das vor Levis Geburt so vereinbart. Warum fühle ich jetzt anders?
Oder haben wir in München postnatal und unabgesprochen einen anderen Weg eingeschlagen? Ist das Verständnis von Brutpflege zwischen Vätern und Müttern inkommensurabel? Sind wir immer noch so stark von den in der Kinderpflege kaum existenten Vätergenerationen geprägt, dass eine systematisch ungerechte Verteilung der kinderbezogenen Aufgaben zulasten der Frauen selbst in den Augen der Frauen akzeptiert wird, wenn der Mann sich nur ein bisschen kümmert?
Markus kümmert sich. Viel sogar. Wenn auch weniger als ich. Denke ich. Er bezweifelt das. Auch, nachdem ich eine Zeitliste erstellt hatte, die eindeutig 70 zu 30 zu meinen Gunsten ausging. Oder zu meinen Ungunsten, je nach Perspektive.
Liegt das an ihm? Oder an mir? Oder an uns beiden? Lasse ich nicht mehr zu? Oder mache ich es ihm einfach zu leicht, weil er weiß, dass ich einspringe? Dass ich mich schon kümmere? Oder halte ich weniger Fremdbetreuungszeit für Levi für akzeptabel als Markus?
Ich vermerke auf meiner gedanklichen Missionsliste, dass die Verantwortung für Levi emotional und faktisch mit unserer Rückkehr nach München in unserer kleinen Familie gleich verteilt werden soll. Nach unser beider Wahrnehmung. Für die Veränderung meiner emotionalen Sicht habe ich ja noch einige Wochen Reisezeit vor mir. Aber was ist mit Markus?
Außerdem nehme ich mir vor, nicht mehr grundsätzlich einzuspringen, sondern die Nanny die Lücke schließen zu lassen, die kurzfristige Jobthemen in Markus’ Pläne reißen. Auch wenn ich es schade fände, wenn Levi zu wenig Zeit mit seinem Vater und zu viel Zeit mit der Nanny verbrächte.
Aber auf einen Versuch will ich es ankommen lassen. Außerdem kann Levi ruhig merken, dass Markus und ich anders sind. Anders in der Verteilung unserer Aufmerksamkeit. Anders im Umgang mit ihm. Das eine muss ja nicht besser oder schlechter sein. Nur halt anders. Vielleicht ist es wirklich »nur« eine Frage des Kopfes?
Die Kerze schenkt mir noch ein paar Seiten Mulisch.
In dieser Nacht wache ich nur einmal auf. Ich rüttle Markus wach und bitte ihn, nach Levi zu sehen, weil ich mir Sorgen mache, dass es zu kalt für ihn sein könnte. Danach schlafe ich mit nur ganz leicht schlechtem Gewissen und einem Grinsen auf der Seele wieder ein.
Wird doch.
Für zwölf Stunden in der Hand mongolischer »Geiselnehmer«
Jetzt sitzen wir schon seit sieben Stunden im Jeep und rumpeln über mehr oder weniger wegloses Gelände. Ausgemacht waren drei Stunden. Wegen Levi. Und auch ich bin kein guter Beifahrer: Wenn ich nicht selbst das Steuer in der Hand habe, wird mir schlecht.
Die Fahrt zu unserem nächsten Camp im Khan-Chentii-Nationalpark sollte laut Auskunft unseres Fahrers und der Übersetzerin Nara insgesamt sieben Stunden dauern. Da uns das mit Levi zu lang erschien, hatten wir die Idee, die Fahrt in zwei Etappen aufzuteilen. Zweimal gemütliche dreieinhalb Stunden Fahrt. Mit viel Pausen dazwischen und einer Übernachtung in einem Camp genau zwischen Ikh Nart und Jalman Meadows.
»Kein Problem!«, hatte Nara sofort gesagt. Verdächtig schnell.
Mehrmals hatte ich nachgefragt, nur um sicherzugehen. Denn mehr als dreieinhalb Stunden Autofahrt schienen mir mit Levi relativ schnell relativ ungemütlich werden zu können. Immer wiederholte Nara: » We split the drive in two halfs and sleep in a camp after three to three and a half hours .«
So weit die Theorie. Praktisch sitzen wir jetzt seit siebeneinhalb Stunden eingepfercht im Auto. Die sandige Steppe wurde langsam wieder grasiger. Die einzige Abwechslung boten die drei heruntergekommen wirkenden Plattenbausiedlungen, die immer dann, wenn wir Eisenbahnschienen kreuzten, wie aus dem Nichts auftauchten. Bei allen drei Siedlungen war gut die Hälfte der Bauten bewohnt. Die anderen Türme wirkten so, als hätten die Bauarbeiter auf einmal ein lukrativeres Angebot für eine andere Baustelle erhalten. Oder als hätte der Stadtplaner gemerkt, dass er sich verrechnet hat und doch nicht so viele Menschen wie gedacht hier auf dem platten Land in einem ästhetisch fragwürdigen Objekt leben wollen. Allen Siedlungen war ein flacher vorgelagerter Bau gemeinsam, auf dem in großen lateinischen Lettern stand: Pub Karaoke Billard .
Zum wiederholten Mal frage ich, ob wir
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