Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
komme, hat sich ein Drittel der Gruppe umpositioniert. Die Menschen in den Cafés, vor deren Nase dieses Schauspiel stattfindet, beachten es nicht weiter. Jetzt sehe ich auch den Mann mit einer Art Kladde unter einem Baum stehen, der abwechselnd Kommandos schreit und etwas in seiner Kladde verzeichnet.
Nach einigen Minuten verlasse ich meinen Beobachtungsposten, um mich Levis morgendlicher Schmuse- und Spielsession zu widmen. Und um zu dritt zu frühstücken.
Draußen vor unserer Tür baumelt ein Schild: Do not disturb!
Irgendetwas von mir ist noch in der Mongolei. Auf jeden Fall nicht hier. In diesem schwülwarmen Meer aus Farben, Menschen, gedämpftem Lärm und Hektik vor unserer Balkontür. Mir ist nach Verschnaufen, nach Baden, nach Nichtstun. Nach Warten, bis der Rest von mir hier ankommt. Nach Langsamkeit. Vielleicht drehen wir heute Nachmittag mal eine Runde durch Sanlitun? Vielleicht auch nicht.
Levis lauter werdendes »Mäh!« lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Er steht vor der Zimmertür und will los. Raus. Was erleben. Für Levi findet unsere morgendliche familiäre Gemütlichkeit in einem abgeschlossenen Raum statt: egal, ob es sich dabei um unser Nest in der Transsibirischen Eisenbahn, unser Holzzimmer in Bolschije Koty, unsere Jurten in der Mongolei oder dieses luftige Zimmer im Opposite House handelt. Für ihn ist ein Zimmer ein Zimmer. Und jedes Zimmer hat eine Tür. Egal, ob transsibirische Schiebetür, knarrende Holztür am Baikal, bunt verzierte niedrige Jurtentür oder beige Hotelzimmertür mit Metallknauf. Und da will er jetzt durch. Raus. In die Welt dahinter.
Recht hat er ja.
Und ohrenbetäubende Argumente.
Kaum habe ich die Tür geöffnet, ist Levis Nase auch schon draußen. Mit beiden Händen umklammert er die Zimmerkarte. Also führt Markus geduldig den gesamten Levi zum Sensor im Lift und drückt Ground Floor . Levi drückt seinerseits noch auf die 3, 2, 1 und -1, und so dauert es eine Weile, bis wir im Untergeschoss ankommen. Irgendwie haben wir vor lauter Staunen mit Levis Augen das geplante Ziel verpasst. Es gab aber auch viel zu sehen. Die Hotellobby gleicht einer Galerie mit einem abstrakten Gemälde lastwagengleichen Ausmaßes und zahlreichen auf Staffeleien ausgestellten bunten Kunstwerken im gleichen Stil. Eine Rezeption existiert nicht. Stattdessen teilt eine Acrylwand die Lobby, in die ungefähr sieben Millionen Holzschubläden eingelassen sind. Wie ein überdimensionierter Apothekerschrank, um den sich nette junge Männer und Frauen in der legeren Hoteluniform mit iPad in der Hand aufhalten.
Nachdem wir das Untergeschoss mit spanischem und japanischem Restaurant und dem Klub, in dem Markus vor knapp drei Wochen versackt war, inspiziert haben, entdecken wir eine Etage tiefer einen in rotem Licht vor sich hin dämmernden Pool. Nach einer ausgiebigen Schwimmsession ist Levi müde, und auch uns kommt sein Mittagsschlaf gerade recht.
Peking muss noch draußen bleiben.
Zwei Stunden später sitzen wir fast mittendrin. Auf einer Vorstufe zu dem wuselig geschäftigen Leben des jungen Pekings. Denn auf der Terrasse des legeren Frühstück- und Lunchrestaurants treffen sich neben Hotelgästen auch asiatische und westliche Künstlertypen und Geschäftsleute. Nach einem ausgiebigen Mittagessen, das mein Sohn sich mit Chopsticks darreichen lässt, ist es Zeit, mit Peking Kontakt aufzunehmen. Und so hangelt Levi sich entlang der Bänke zu einem für ihn besonders spannenden Tisch. Kaum angekommen wird er von einem scheinbar dem chinesischen MTV entsprungenen jungen Mann mit tätowierten Armen, Kajal um den Augen und rosa schimmerndem Gloss auf den Lippen in die Höhe gerissen, lachend begutachtet und auf den gelb bejeansten Schoß gesetzt. Und dort sitzt er nun. Mit ernster Miene folgt er der Unterhaltung.
Als ich nach einigen Minuten die chinesische Ersatznanny von Levi befreien will, bleibe ich vor überschäumender Herzlichkeit am Tisch hängen. Nach einer guten Stunde spannenden interkulturellen Austausches verabschieden sich drei Chinesen, zwei Schweden und ein Amerikaner von uns.
Auch wir drei brechen auf.
Wir bewundern die neuesten Showroomkonzepte der internationalen Marken dieser Welt. Wir lachen über ein Wasserspiel, das in den Boden vor Niketown eingelassen ist und aus dem es überraschend und immer an anderer Stelle kalt herausschießt. Wir schlendern durch den Replica Market und staunen darüber, dass direkt neben einem aufstrebenden hochwertigen
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