Mutproben
in seiner Partei. Die meisten in der Fraktion wollten verantwortungsvoll mitregieren und ihrem Amt gerecht werden. Sie waren stolz darauf, Senatoren zu sein, Staatsräte oder Abgeordnete, und versuchten daraus das Beste zu machen. Die haben sich selbst durchaus in die Pflicht genommen.
Ronald Schill – Die tickende Zeitbombe
Wir hatten einen engen Draht innerhalb der Regierung und sprachen sehr früh schon sehr offen darüber, wie man Schill Korsettstangen verpassen könnte. Vor allem nach seinem Aussetzer im Bundestag nicht einmal ein Jahr nach der gewonnenen Wahl. Dort sorgte Schill erstmals für einen bundesweiten Eklat. Es ging dabei um die Flutkatastrophe in Ostdeutschland und um die notwendigen Hilfen, die man den Menschen vor Ort zukommen lassen sollte. In seiner Rede kritisierte Schill die mangelnde Bereitschaft der deutschen Politik, im Vergleich zu anderen Ländern für Katastrophen zu wenig finanzielle Mittel aufzubringen. Dafür würde aber zu viel für Zuwanderer investiert. Die Sache spitzte sich weiter zu, als Anke Fuchs, die Bundestagsvizepräsidentin, Schill das Mikrofon abstellte, weil dieser die Redezeit überschritten
hatte und auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht zum Ende gekommen war. Nachdem man ihm dann doch noch ein Schlusswort zugestand, ging Schill nicht weiter auf das Thema ein, sondern beschwerte sich seinerseits nun über das Vorgehen des Bundestagspräsidiums. Als ihm daraufhin nun endgültig das Mikro abgedreht wurde, kündigte er wutentbrannt eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an.
Es war unfassbar peinlich. Schill hatte sich in seiner Wortwahl völlig vergriffen und bekam dabei diesen starren Blick, den ich auch schon aus anderen Situationen von ihm kannte. Ich musste mich öffentlich erklären und versuchte, die Sache herunterzuspielen. Ich bestellte ihn zu mir ein und wir vereinbarten, dass jeder Auftritt im Bundestag künftig genauestens im Senat abzusprechen sei, wie eine Rede detailliert aussehen soll und welche Zielsetzung sie hat. Damit, so mein Eindruck, war er einverstanden. Er neigte wohl dazu, vorzupreschen, wenn er sich gereizt fühlte und in die Ecke gedrängt sah. Er, so hatte es jedenfalls den Anschein, verlor dann die Kontrolle, konnte aber mit einigem Abstand stets klar reflektieren und sich eigene Fehler eingestehen.
Ich glaube nicht, dass Schill ein Choleriker im klassischen Sinn war. Choleriker werden laut und hinterher entschuldigen sie sich vielleicht. Schill hatte in diesem Fall schlicht das Gefühl für die Wirklichkeit verloren. Auch seine eigenen Leute waren peinlich berührt von seinem Auftritt. Sie hatten ihn zwar auch schon öfter in Fahrt erlebt, aber das war nun doch etwas anderes gewesen. Eine neue Dimension.
Nach diesem Auftritt im Bundestag wusste ich: Noch einmal
überlebt die Koalition so etwas nicht. Ich war genervt und angespannt, hoffte aber trotzdem, Schill irgendwie kontrollieren zu können. Einige wenige in der eigenen Fraktion versuchten, ihn immer mal wieder aufzuhetzen, ihn bei der Ehre zu packen und ihm einzuimpfen, er müsse bei diesem oder jenem Thema ruhig mal kräftiger auf den Tisch hauen und klare Kante zeigen. Aber die meisten waren aus meiner Sicht vernünftige Leute, die Erfolg wollten und die ihn schnell auch wieder runterkühlen konnten. Ich selbst sah es ganz nüchtern. Nach kleineren und größeren Ausrastern war er eigentlich immer einsichtig und es wäre zu einfach gewesen, Schill als dauerhaftes Risiko darzustellen, als tickende Zeitbombe. Er hatte ab und zu diese Macken, aber er war nicht in Dauerekstase. Hin und wieder hatte ich das Gefühl, dass er gleich explodieren könnte, aber letztlich passierte doch nichts und er kriegte sich selbst wieder ein.
Doch nach dem Bundestagseklat gab es die ersten lauteren Stimmen, Schill vor die Tür zu setzen. Ich selbst war damals überzeugt davon, dass das seine eigene Partei nicht mitmachen würde. Außerdem hielt ich es auch für Unsinn, jemanden wegen eines einzigen Fehltritts und nach so kurzer Zeit schon zu entlassen.
Gleichwohl war es ärgerlich, weil über der ganzen Schill-Debatte die eigentliche politische Arbeit ins Hintertreffen geriet. Bis heute bin ich der Überzeugung, dass wir in der Sache viel vorzuweisen hatten: Das Konzept der wachsenden Stadt entstand, die Haushaltssanierung ging voran, die öffentliche Drogenszene war zumindest weniger sichtbar und belästigend,
es herrschte so etwas wie Aufbruchstimmung. Und auch diejenigen, die bis heute das
Weitere Kostenlose Bücher