Muttergefuehle
tausend Tode sterben, wenn er im Feierabendverkehr Lauf- und Fahrrad fahren lernt, ich werde mir in die Hose machen, wenn er das erste Mal allein mit der U-Bahn unterwegs ist, und ich werde garantiert kein Auge zutun, wenn er den Kiez auf links ziehen wird. Aber zum Glück habe ich ja den Mann; denn wenn ich anfange, angesichts dieser Vorstellungen hysterisch zu werden, beruhigt er mich: Irgendwann wird unser Sohn doch sowieso in die Stadt zurückwollen; da ist doch besser, er hat vorher gelernt, wie sie funktioniert. Er wird zwar eine harte Schule durchlaufen, aber dafür weiß er dann eben auch früh, wie er sich im Straßenverkehr, in der U-Bahn oder auf dem Kiez zu verhalten hat, um unversehrt zu bleiben und so wenig Ärger wie möglich zu haben. Das ganze Leben Frischluft zu atmen, bringt einem schließlich nichts, wenn man überhaupt nicht weiß, was zu tun ist, wenn sie mal dünn wird.
Darum habe ich weder Zweifel noch Schuldgefühle, in der Stadt wohnen zu bleiben:
• Mein Sohn fühlt sich dort wohl, wo ich mich wohlfühle. Und ich glaube, dass ihn eine zufriedene Mutter glücklicher macht als ein großer Garten.
• Gute Nachbarschaft gibt es auch bei uns in der Stadt, sie ist wahrscheinlich fast noch besser, weil wir dank der größeren Auswahl keine Kontakte erzwingen müssen.
• Sehnen wir uns nach Stille, fahren wir in den Schrebergarten.
• Wir kaufen auf dem Markt Produkte vom Bauernhof und aus der Landschlachterei.
• Wir haben einen großen Park in Fußnähe und einen super Zoo nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt.
DER MUTTERMYTHOS & DIE SCHULDGEFÜHLE
Das mache ich nur, weil …
Der Zwang, sich für alles zu rechtfertigen.
Während ich hier sitze und schreibe, ist mein Kind bei seinem Tagesvater. Es hat dort einen Acht-Stunden-Platz, aber ich hole es eigentlich immer früher ab, ist ja auch ganz schön lange für ein so kleines Kind. Aber es liebt seinen Tagesvater wirklich sehr, manchmal will es gar nicht wieder mit nach Hause. Und zack, schon ist es passiert. Ich rechtfertige mich. Seit ich schwanger war, fühle ich mich von hochgezogenen Augenbrauen umzingelt. Als ich mit Kind im Bauch ein blutiges Steak bestellte, erklärte ich im gleichen Atemzug, dass ich ja auf dem Bauernhof aufgewachsen bin und deshalb schon mal Toxoplasmose hatte, ich könne das auch mit einem ärztlichen Schrieb nachweisen. Wenn ich schwanger ein Konzert besuchte, erzählte ich schon am Eingang allen Argwohnern, dass ich mich natürlich ganz nach hinten stellen und sofort wieder gehen würde, wenn ich merkte, dass das Kind unruhig würde. Und nach der Geburt wurde alles noch viel schlimmer. Ich rechtfertigte mich für den Kaiserschnitt, denn der war ja nicht geplant. Ich hatte schon Presswehen und wollte das Kind auf natürliche Weise bekommen, aber dann lag es nicht richtig, und wir haben wirklich alles probiert, Wehentropf, PDA (aber wirklich nur, weil der Arzt das so wollte), und als gar nichts mehr ging, kam eben der Kaiserschnitt. Beim Abstillen war es schon ein bisschen besser. Ich habe zumindest zugegeben, dass ich Stillen nicht mochte, aber ich habe es natürlich trotzdem wie empfohlen sechs Monate durchgezogen, und danach habe ich auch nur abgestillt, weil mein Sohn mir signalisiert hat, dass er bereit ist für andere Nahrung, und ich habe, na klar, extra viel mit ihm gekuschelt, um die fehlenden Momente der Nähe zu kompensieren. Und mit Gläschen habe ich ihn auch nur gefüttert, weil ich gelesen habe, dass darin viel mehr Vitamine sind als im matschigen Selbstgekochten.
Stimmt nicht. Ich habe Gläschen gekauft, weil ich zum Kochen keine Lust hatte. Warum muss ich mich überhaupt immer rechtfertigen? Da brauchen wildfremde Menschen, die nicht selten einen völlig anderen Lebensentwurf haben als ich, nur die Stirn zu runzeln, schon sprudelt es aus mir heraus, und ich wünsche mir nichts sehnlicher als deren Absolution. Dabei ist es doch einzig und allein meine Sache, wie ich mein Kind bekomme, wie ich es ernähre und erziehe. Gut, der Mann darf noch mitreden, aber alle anderen können ab sofort bei Schlüsselwörtern wie Stillen, Kaiserschnitt oder Durchschlafen ihre Augenbrauen unten lassen und so lange die Klappe halten, bis sie gefragt werden.
Mein Plan für ein Leben ohne Rechtfertigungszwang:
• Ich nehme mir vor, mich ab sofort für nichts mehr zu rechtfertigen.
• Ertappe ich mich doch dabei, rufe ich erst innerlich STOPP ! und bringe dann deutlich zur Sprache, dass ich
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