My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
leise: „Mr. Brooke.“
„Ja, Madam?“
„Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen.“
„Ich bin Ihnen zu mehreren Entschuldigungen verpflichtet“, erwiderte er ruhig.
„Lassen wir es dabei bewenden?“
„Gern“, antwortete Olivia erleichtert. „Eines möchte ich jedoch klarstellen. Ich bin nicht so eingebildet, anzunehmen, jeder Mann suche eine Gelegenheit, sich mir nähern zu können. Bei Ihnen war das etwas anderes. Ich befürchtete, Sie könnten die Möglichkeit nutzen, sich auf meine Kosten zu amüsieren. Das haben Sie ja schon einmal getan.“
„Bis jetzt haben wir beide uns nicht gerade von der besten Seite gezeigt. Schuld daran sind Mißverständnisse auf beiden Seiten.“
Selbst in der reumütigen Stimmung, in der Olivia sich befand, war sie nicht willens, Fehler oder Irrtümer einzuräumen. „Ich glaube nicht, daß ich einen falschen Eindruck hatte“, entgegnete sie kühl. „Sie nahmen an, ich hätte es auf Sie abgesehen, wie alle anderen jungen Frauen, die sich einen Gatten angeln wollen. Deshalb haben Sie mich so herablassend behandelt.“
„Sie täuschen sich, Madam“, widersprach Tom gelassen. „Sie wollten mit mir schäkern, und zwar nach Ihren Bedingungen. Das hätten Sie nicht tun dürfen“, fügte er hinzu, drehte sich zu ihr um und schaute sie ernst an.
„Und warum nicht?“ wollte sie verwundert wissen. „Sie haben doch auch dauernd mit mir geflirtet!“
„Das ist etwas ganz anderes.“
„Ich sehe keinen Unterschied.“
Tom schwieg und dachte darüber nach, wie er ihr erklären könne, was er meinte.
Sie hielt sein Schweigen für Verärgerung, weil sie die Vorrechte, die Männer sich anmaßten, in Frage gestellt hatte.
Der Dunst lichtete sich, je tiefer man ins Tal kam, und die Silhouetten von Hecken, Zäunen und Häusern waren zu erkennen. Wahrscheinlich war der Nebel nur im Moor so dicht gewesen.
„Der Unterschied ist nicht einfach zu erläutern“, sagte Tom nach einer Weile. „Ein Flirt ist eine Art Kampf zwischen Mann und Frau, bei dem der eine auf das Gebiet des anderen vordringen kann, vielleicht einen kleinen Sieg davonträgt oder sich zumindest unbeschadet zurückzuziehen vermag. Beide Parteien befolgen jedoch gänzlich andere Regeln. Ein Mann kann so weit gehen, wie die Frau es ihm gestattet. Er weiß, daß sie das Recht hat, ihn bei der ersten Annäherung abzuweisen. Glauben Sie mir, eine Abfuhr dieser Art kann sehr unangenehm sein. Die Frau hingegen muß sich von Vorsicht und Rücksichtnahme auf ihre gesellschaftliche Stellung leiten lassen. Wenn sie nicht sorgsam aufpaßt, nimmt der Mann sich Freiheiten heraus und verfährt nach seinem Gutdünken. Warum sollte er ihre Tugend achten, wenn sie selbst es nicht tut? Und wenn sie ihn ermutigt und dann im letzten Moment den Sinn ändert, hält er sie für flatterhaft und leichtfertig.“
Olivia war entsetzt. „Haben Sie mich so eingeschätzt?“ fragte sie bestürzt.
„Nein. Ich war überzeugt, daß Sie die Situation, in die Sie sich gebracht hatten, nicht richtig überblickten. Ich war der Meinung, man müsse Ihnen eine Lehre erteilen.“
Diese Antwort war kein Trost für Olivia. „Ich hatte keine Ahnung, daß ich Sie im Park von Rosamond's Bower treffen würde“, erwiderte sie steif. „Ob Sie mir das nun glauben oder nicht. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß Sie sich dort befinden könnten. Man hatte mir erklärt, meine Verwandten hätten das Recht, sich in Lord Canfields Abwesenheit im Garten zu ergehen, der sehr hübsch und malerisch angelegt sei.“
„Ach, vergessen wir Rosamond's Bower! Bei dem von den Osgoods veranstalteten Ball haben Sie mich deutlich genug ermutigt. An jenem Abend waren Sie fest entschlossen, mein Interesse zu wecken. Ich hatte ja kaum Gelegenheit, mit einer anderen Dame zu sprechen.“
„Das lag nur daran, daß ich versucht habe…“ Verlegen hielt Olivia inne. Sie konnte Mr. Brooke nicht erklären, daß sie sich bemüht hatte, ihn Hetty fernzuhalten, die noch immer unglücklich in ihn verliebt gewesen war und von der zu befürchten stand, sie würde sich vor ihrem zukünftigen Gatten und den Gästen eine peinliche Blöße geben. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, daß Mr. Brooke nie begriffen hatte, welche Gefühle Hetty für ihn hegte, und der Annahme gewesen war, sie habe die Leidenschaft zu ihm verwunden, seit ein anderer geeigneter Ehekandidat an ihrer Seite weilte.
Olivia hatte Thomas Brooke für herzlos und eitel gehalten, doch nun sah sie ihn in
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