My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
anderem Licht. Sein Verhalten war nicht absichtslos gefühllos. Offenbar widerstrebte ihm der Gedanke, Frauen könnten ihm des Geldes wegen nachstellen. Das konnte sie gut verstehen, denn auch sie war von Verehrern verfolgt worden, die es nur auf ihr Vermögen abgesehen hatten.
„Was wollten Sie vorhin sagen?“ nahm Tom den Gesprächsfaden wieder auf. „Sie sprachen über den Ball bei den Osgoods.“
Olivia konnte die arme Hetty nicht bloßstellen. Verzweifelt suchte sie nach einer passenden Antwort und sagte schließlich: „Ich nehme an, ich habe mich deshalb so aufdringlich benommen, weil ich mich langweilte.“ Tom lachte laut auf. „Und dann kamen Sie auf den Einfall, ich könnte Ihnen die Zeitvertreiben helfen, weil ich Ihrer Meinung nach nicht ganz so langweilig wie die anderen Gäste war? Nun, irgendwie kann man das als Kompliment betrachten!“
Olivia fand die Bemerkung nett, denn sie zeugte nicht von einem eingebildeten Wesen. Dennoch wunderte es sie, daß Mr. Brooke sich offensichtlich nie im klaren über Hettys Gefühle gewesen war und den Schaden, den er angerichtet hatte. „Darf ich Sie etwas fragen, Sir?“ wandte sie sich zögernd an ihn.
„Gewiß.“
„Ich gebe zu, daß junge Frauen, die zum Flirten neigen, oft frivol und manchmal gedankenlos sind, aber wie sollen sie sich benehmen, wenn sie ernsthaft verliebt sind? Wie soll ein Mädchen einen Mann behandeln, der mit ihr tanzen und spaziergehen will oder den Wunsch hat, mit ihr über Literatur zu plaudern und die üblichen Vergnügen zu unternehmen, die im allgemeinen zu einer Verlobung führen? Soll sie sich bereitwillig geben, oder muß sie wie eine Statue mit steinerner Miene neben ihrer Mutter sitzen und darauf warten, daß der Verehrer sich ihr formell erklärt? Ich glaube nicht, daß viele Frauen verheiratet wären, würden wir uns so verhalten. Die Männer würden Reißaus vor uns nehmen.“
„Sie haben sich selbst die Antwort gegeben“, erwiderte Tom leicht ungeduldig.
„Wenn beide Seiten sich innerlich verbunden fühlen, wird die junge Dame ihren Kavalier natürlich ermutigen.“
„Und wie soll sie wissen, daß er es ernst meint?“
„Sollte sie sich ihrer Gefühle nicht sicher sein, ist sie gut beraten, sich zurückhaltend zu betragen.“
„Ich spreche nicht über sie, sondern über ihren Bewunderer. Wie soll sie erkennen können, ob seine Avancen ehrbarer oder schändlicher Natur sind oder einfach nur oberflächlich, bedeutungslos und eigennützig? Sie, die dazu erzogen wurde, nie etwas Ungehöriges oder Unbedachtes zu tun und niemals zu flirten?
Wie soll sie die Absichten ihres Verehrers vor einer offiziellen Verlobung beurteilen?“
Tom schaute Miss Fenimore prüfend an und fragte: „Haben Sie sich je in einer derartigen Situation befunden?“
„Nein“, antwortete sie hastig. „Ich hatte in vieler Hinsicht Glück, denn ich wurde von einer jungen Stiefmutter aufgezogen, die sich sehr gut in der irischen Gesellschaft auskannte. Und in meinem Alter geht man niemandem mehr so schnell auf den Leim.“
Der beste Schutz für Olivia war natürlich ihr Vermögen gewesen. Die meisten Männer hatten sie aus den falschen Gründen heiraten wollen. Aber Mr. Brooke konnte nicht wissen, daß sie eine reiche Frau war. Der Onkel war nicht begütert, und Thomas Brooke mußte annehmen, sie sei eine mittellose Nichte, die bei Verwandten Unterschlupf gefunden hatte. Folglich mußte ihr Verhalten viel zu selbstbewußt und unverfroren auf ihn gewirkt haben.
Der Gedanke erschreckte sie, und deshalb fuhr sie rasch fort: „Ich bezog mich auf jüngere Frauen, die noch nicht so viel von der Welt kennen wie ich. Männer wie Sie, Sir, neigen dazu, sie als Freiwild zu betrachten und ein leichtes Opfer in ihnen zu sehen. Ich nehme an, es stört Sie nicht, wenn Sie falsche Hoffnungen wecken oder jemandem das Herz brechen. Aber finden Sie es nicht ziemlich schäbig, so wenig Respekt vor der Würde der Frau zu haben?“ Tom antwortete nicht.
Das Schweigen wurde lastend, und Olivia wünschte sich, sie hätte den Mund gehalten.
Nach einer Weile murmelte Tom: „Sie müssen mich für einen verkommenen Schuft halten! Nein, das vielleicht nicht, eher für einen frivolen Lebemann. Ich hatte keine Ahnung, daß ich Ihre Cousine Hetty so verletzt habe, und bedauere, wenn sie meinetwegen gelitten hat.“
Olivia war bemüht gewesen, Hettys Namen nicht zu erwähnen, doch Mr. Brooke konnte sich natürlich denken, wen sie bei den vorwurfsvollen
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