My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
langsam zur Tür und blieb einen Moment stehen. „Ich habe Ihnen einmal erklärt, daß in meinen Augen Frauen, die Männer ermutigen und dann einen Rückzieher machen, flatterhaft und oberflächlich sind. Sie sind selbst in dieser Hinsicht eine Ausnahme! Sie bringen es ja sogar fertig, einen ehrlich gemeinten Heiratsantrag wie eine Beleidigung wirken zu lassen! Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Miss Fenimore!“ 7. KAPITEL
Aus tiefhängenden Wolken rauschte der Regen auf das graue Meer. Der Witterungsumschwung fiel mit dem Ende der Saison zusammen. Die Sommergäste hatten das Städtchen verlassen. Olivia hatte das Gefühl, sie habe wochenlang in einer ganz anderen Welt gelebt. Die glückliche, unbeschwerte Zeit war vorüber und schien Ewigkeiten zurückzuliegen.
Geschützt
von
Regenschirmen,
begaben
die
Fenimores
sich
zum
Sonntagsgottesdienst. Olivia hatte nicht den Wunsch verspürt, in die Kirche zu gehen oder an irgendeinen anderen Ort, wo sie Gefahr lief, Mr. Brooke zu begegnen.
Thomas Brooke war nicht, wie sie erwartet hatte, aus Parmouth abgereist. Beim Betreten des Gotteshauses fiel ihr Blick sogleich auf ihn. Er saß mit Mrs.
Channing und deren Kindern in den ihm vorbehaltenen Kirchenstühlen. Da die Plätze der Fenimores drei Reihen hinter ihm waren, hatte Olivia während des Gottesdienstes seinen Rücken vor sich. Dieser Umstand lenkte sie ab und raubte ihr die Ruhe in einem Moment, da sie den Seelenfrieden am meisten benötigte.
Nach dem Ende des feierlichen Amtes erwog sie, welche Möglichkeiten sie hatte, Mr. Brooke zu entkommen, ohne ein Wort mit ihm wechseln zu müssen. Beim Verlassen der Kirche erwies sich diese Möglichkeit jedoch als aussichtslos. Es goß in Strömen, so daß alle sich im Vorraum zusammendrängten, um das Nachlassen des Unwetters abzuwarten.
„Guten Morgen, Mr. Brooke“, begrüßte ihn James Fenimore. „Nach dem Ende der Saison sind Sie eigentlich selten in Parmouth, nicht wahr?“ Tom antwortete, es habe Schwierigkeiten bei der Planung der Villen und Landhäuser gegeben, die er bei Tatton Cove erbauen wollte, und daß er deshalb genötigt sei, noch im Ort zu bleiben.
Olivia war überzeugt, daß er einen viel wichtigeren Grund hatte, das Städtchen nicht zu verlassen. Er wollte bestimmt nicht in die große Welt zurückkehren, solange jeder sich noch den Mund über die Art zerriß, wie er Lady Laybourne behandelt hatte. Gewiß scheute er die Mißbilligung und die tadelnden Bemerkungen seiner Freunde. Sie zwang sich, ihn anzuschauen, und merkte, daß er sie beobachtet hatte.
Ihr Blick irritierte ihn, und verlegen sah er zur Seite.
Sie wandte den Kopf ab und stellte erleichtert fest, daß der Regen nachließ.
Rasch spannte sie den Schirm auf und kam auf dem Heimweg zu der Erkenntnis, daß Mr. Brooke ihr in Zukunft sicher aus dem Weg gehen würde. Da die Wakelins sich nicht mehr in Rosamond's Bower aufhielten, bestand nur geringe Gefahr, daß Olivia ihm begegnen würde.
Einige Tage nach dem Zusammentreffen in der Kirche traf bei den Fenimores ein Brief von Mr. Makepeace ein: Seine Gattin war guter Hoffnung, und er machte sich große Sorgen um ihre Gesundheit. Sie beklagte sich nie, doch er schrieb, er habe den Eindruck, sie leide unter den Umständen mehr als andere Frauen. Da seine Mutter nicht mehr lebte und er keine weiblichen Anverwandten hatte, ersuchte er die Schwiegermutter, zu ihm zu kommen und ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Selbstverständlich war Hester nach dieser Neuigkeit in der hellsten Aufregung.
Sie ließ den Haushalt in den Händen der Nichte und reiste mit der Postkutsche ab.
Olivia hatte nichts dagegen, die Aufgaben der Hausherrin zu übernehmen. Sie trug gern Verantwortung und kam wunderbar mit dem Onkel und den Dienstboten zurecht. Der Cousine konnte sie jedoch leider nicht mehr als Anstandsdame dienen.
Deshalb hatte Mrs. Osgood versprochen, sie und Flora beim ersten der monatlichen Bälle, die im Herbst und Winter in Parmouth stattfanden, unter ihre Fittiche zu nehmen.
Am Abend dieses Balles ging Olivia mit sehr gemischten Gefühlen in das Kurhaus, doch ein Blick genügte, um festzustellen, daß niemand aus Vale Manor anwesend war. Allerdings gab es nicht genügend Herren zum Tanzen, und so entschloß sie sich, nachdem sie die ersten beiden Runden hatte aussetzen müssen, den morgens beim Spaziergang leicht verstauchten Fußknöchel zum Vorwand zu nehmen und Mrs. Osgood Gesellschaft zu leisten. Sie hatte keine Schmerzen,
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