Myriams letzte Chance
Handy neben der Isomatte. Vier Uhr. Meine Güte, es war ja noch mitten in der Nacht. Sie wollte sich auf die andere Seite drehen, um wieder einzuschlafen, als sie drauÃen Schritte hörte.
War das April, die doch noch ins Zelt kam?
Aber die Schritte waren schwer und polternd. Als ob da ein Riese vorbeiging. Oder zwei oder drei. Die Schritte mussten von mehr als einer Person herrühren. Und sie kamen näher. Hu, das war ja gruselig!
Ob sie nachschauen sollte, wer da kam? Du bist doch kein HasenfuÃ, hatte ihr Vater früher immer gesagt. Myriam richtete sich vorsichtig auf, kroch auf allen vieren zum Zeltausgang, zog den ReiÃverschluss ein Stück hoch und spähte hinaus. Das Mondlicht glänzte auf den Grasstoppeln der Pferdeweide, als ob jemand Milch verschüttet hätte. Sonst war nichts AuÃergewöhnliches zu sehen.
Sie schlüpfte wieder zurück in den Schlafsack. Ich hab mich vertan, versuchte sie sich einzureden. Da war nichts. Sie lauschte wieder in die Dunkelheit. Alles war still.
Myriam schloss die Augen, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie war viel zu aufgewühlt. Und auÃerdem musste sie aufs Klo.
Sie zögerte. Sollte sie jetzt wirklich raus und im Mondlicht zum Haus hochlaufen? Wenn da womöglich ein riesiges Unwesen unterwegs war? Eine ganze Weile lang wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. So ein Blödsinn, dachte sie plötzlich. Riesen und Monster gibtâs vielleicht im Märchen, aber bestimmt nicht auf der Sunshine Ranch.
Sie schob die nackten FüÃe in ihre Cowboystiefel, zog ein Sweatshirt über das Nachthemd, dann kroch sie aus dem Zelt. Am Roundpen vorbei rannte sie zum Haus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzublicken.
Auf dem Rückweg sah sie, dass die Tür zum Stall offen stand. Sue schloss das Gebäude niemals ab, weil sie Angst hatte, dass nachts ein Feuer ausbrechen könnte und die Tiere dann gefangen wären. Aber sie achtete darauf, dass die Tür geschlossen war. Ob sie ebenfalls noch wach war und jetzt nach den Pferden sah?
Zögernd näherte sich Myriam dem Stall. âHallo?â, rief sie leise, als sie die Tür erreicht hatte. Keine Antwort.
Sie trat ein. Die Dunkelheit umgab sie, als hätte ihr jemand einen Sack über den Kopf gestülpt. Einen Moment blieb sie stehen und starrte in die undurchdringliche Schwärze. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis und sie erkannte Schemen. Die Absperrung der Boxen, die Stallgasse. Gleich in der ersten Box neben dem Eingang war Dakota untergebracht, ein nervöser Colorado Ranger, der sich nur von Sue reiten lieÃ. Er hatte Myriam bemerkt und wieherte erschreckt. Die anderen Pferde wurden ebenfalls unruhig.
âIst ja gutâ, murmelte Myriam. âIch wollte nur sehen, ob bei euch alles okay ist.â
Die Pferde schnaubten nervös. Dakota schlug mit seinen Hufen gegen die Box. Du liebe Zeit, hoffentlich weckte das Getrampel Sue nicht auf; sie würde bestimmt auÃer sich geraten, wenn sie Myriam im Stall entdeckte!
âIch bin ja schon wieder wegâ, flüsterte sie. âSchlaft schön.â
Sie war fast an der Scheune vorbei, als sie das Geräusch hörte. Es klang wie ein leises Seufzen. Oder vielmehr ein Stöhnen. Lag da etwa jemand in der Dunkelheit, der sich auf dem Weg zum Klo den Fuà verstaucht hatte?
âHallo?â Ihre eigene Stimme klang dünn und unsicher. Myriam räusperte sich.
Aber bevor sie etwas hinzufügen konnte, hörte sie das Seufzen noch einmal. Diesmal war es ein bisschen lauter.
Wie die Stalltür stand auch die Tür zur Scheune halb offen. Das kam oft vor, Washington und Heinrich hielten gerne zwischen den Schubkarren und Gartengeräten ihr Mittagsschläfchen. Heute Abend war Stefan jedoch mit seinem Hund nach Hause gefahren und Washington war im Haus bei Sue.
Myriam schob sich durch die Ãffnung nach drinnen. Hier war es nicht ganz so dunkel wie im Stall, weil das Mondlicht trüb durch die schmutzigen Fensterscheiben unter dem Dach fiel.
Woher kam dieses Seufzen? Jetzt war nichts mehr zu hören. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Zögernd ging Myriam ein paar Schritte weiter und blickte sich dabei nach allen Seiten um.
Dann blieb sie abrupt stehen und unterdrückte im letzten Moment einen überraschten Aufschrei.
Charlie
Im Schuppen stand eine alte Gartenbank. Sue hatte sie dort abgestellt, um sie abzuschleifen und
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