Myron Bolitar 03 - Der Insider
einem von Gregs Kindern.«
»Unmöglich«, sagte sie.
»Wieso?«
»Hattest du nicht auch mal einen Biologie-Grundkurs in der High School?«
»Das war in der achten Klasse. Aber ich war damit beschäftigt, Mary Ann Palmiero anzustarren. Wieso?«
»Blutgruppe AB ist selten. Wenn ein Kind AB hat, müssen die Eltern A und B haben, sonst ist es unmöglich. Anders ge- sagt, wenn Greg Blutgruppe Null hat, können seine Kinder nicht AB haben.«
»Vielleicht ist es von einem Freund«, vermutete Myron. »Vielleicht hatte eins der Kinder einen Freund zum Spielen da.«
»Sicher«, sagte Esperanza. »So wird's wohl gewesen sein. Die Kinder hatten irgendwelche Freunde da. Einer davon blutet das ganze Zimmer voll, und keiner macht es sauber. Und hinterher verschwindet durch einen seltsamen Zufall auch noch Greg.«
Myron fädelte die Telefonschnur zwischen den Fingern hindurch. »Es ist nicht Gregs Blut«, wiederholte er. »Was machen wir jetzt?«
Esperanza antwortete nicht.
»Wie zum Henker soll ich in so einer Sache ermitteln, ohne dass jemand Verdacht schöpft?«, fuhr er fort. »Ich muss den Leuten doch Fragen stellen, odet? Und die wollen dann wissen, warum.«
»Das tut mir sehr leid für dich«, sagte Esperanza in einem Ton, der deutlich machte, dass es ihr keineswegs leid tat. »Ich muss jetzt ins Büro. Kommst du heute noch rein?«
»Vielleicht am Nachmittag. Heute Vormittag treffe ich mich mit Emily.«
»Ist das deine alte Freundin, von der Win mir erzählt hat?«
»Ja«, sagte Myron.
»Pass auf. Zieh am besten jetzt schon ein Kondom über.« Sie legte auf.
Es war nicht Gregs Blut. Myron verstand überhaupt nichts mehr. Vor dem Einschlafen hatte er eine saubere kleine Theorie entwickelt, die ungefähr folgendermaßen aussah: Die Gangster suchten Greg. Vielleicht hatten sie ihn ein bisschen zusammengeschlagen und ein bisschen zur Ader gelassen, um ihm zu zeigen, dass sie es ernst meinten. Und daraufhin war Greg abgehauen.
Das passte irgendwie alles zusammen. Es erklärte das Blut im Keller. Es erklärte, warum Greg plötzlich verschwunden war. Ja, eine schöne und ordentliche Gleichung: Einmal Zusammenschlagen plus eine Morddrohung ergibt einen Mann auf der Flucht.
Aber wenn das Blut nicht von Greg stammte, passte die Gleichung nicht mehr. Wenn sie Greg im Keller zusammengeschlagen hatten, hätte er sein Blut vergossen, nicht das eines anderen. Es war auch ziemlich schwierig, das Blut eines anderen zu vergießen. Myron schüttelte den Kopf. Er musste unter die Dusche. Noch ein paar Schlussfolgerungen dieser Art und die Theorie, dass sie da unten Hühner geschlachtet hatten, kam wieder ins Spiel.
Myron seifte sich ein, drehte dann den Rücken zur Dusche und ließ das Wasser über seine Schultern und seine Brust strömen. Er trocknete sich ab und zog sich an. Jessica saß im anderen Zimmer am Computer. Er hatte gelernt, dass er sie nicht stören durfte, wenn die Tastatur klapperte. Er hinterließ eine kurze Nachricht und stahl sich aus der Wohnung. Dann ging er zur U-Bahn, fuhr mit der Linie 6 nach Midtown und lief zum Parkhaus auf der 46 th Street. Mario warf ihm die Schlüssel zu, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. An der 62nd Street bog er auf den Franklin D. Roosevelt Drive Richtung Norden und folgte ihm bis zum Harlem River Drive. Der Verkehr stockte wegen einer Baustelle auf der rechten Fahrbahn, aber er schaffte es in einer ziemlich guten Zeit bis zur George Washington Bridge. Er nahm die Route 4 durch Paramus, ein gigantisches Einkaufszentrum, das sich nur als Ortschaft getarnt hatte. Er bog nach rechts auf die Route 208 ab und kam am Nabisco Gelände vorbei. Er hoffte auf einen kräftigen Duft aus der Keksfabrik, ging heute aber leer aus.
Als er in die Einfahrt zu Emilys Haus einbog, traf ihn ein Deja-vu-Gefühl am Hinterkopf wie ein warnender Klaps seines Vaters. Natürlich war er früher schon ein paar Mal hier gewesen, in den Semesterferien, als sie frisch verliebt waren. Das Haus war ein ziemlich großer, moderner Backsteinbau. Es lag in einem gepflegten Viertel in einer Sackgasse. Das Grundstück war eingezäunt. Er erinnerte sich, dass hinterm Haus ein Swimmingpool war. Und dann fiel ihm ein, dass er und Emily sich in der Gartenlaube geliebt hatten: Ihre Kleider waren ihnen auf die Knöchel herab gerutscht, und sie hatten sich schweißnass umschlungen. Ach, die Jugend.
Er stellte den Motor ab, zog den Schlüssel aus der Zündung und blieb einfach sitzen. Er hatte Emily seit über zehn
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