Myron Bolitar 03 - Der Insider
Jahren nicht mehr gesehen. In dieser Zeit war viel passiert, trotzdem fürchtete er sich vor ihrer Reaktion, wenn sie ihn sah. Er hatte noch das Bild vor Augen, wie sie die Tür geöffnet, »du Schwein« geschrien und sie dann wieder vor seiner Nase zugeschlagen hatte.
Er sah aus dem Autofenster. Auf der Straße war alles ruhig. Aber hier standen auch nur zehn Häuser. Er überlegte, wie er am besten vorgehen sollte, kam aber zu keinem Ergebnis. Er sah auf die Uhr, nahm jedoch die abgelesene Zeit gar nicht wahr. Dann seufzte er. Eins war sicher: Er konnte hier nicht den ganzen Tag sitzen. In diesem Viertel würde ihn jemand sehen und die Polizei rufen. Es war Zeit, zur Sache zu kommen. Er öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Die Straße war vor mindestens fünfzehn Jahren bebaut worden, sah aber immer noch neu aus. Die Vorgärten waren etwas zu spärlich bepflanzt - Bäume und Sträucher brauchten noch ein paar Jahre. Der Rasen sah aus wie ein schlechtes Haartransplantat.
Myron marschierte den Backstein hoch. Er überprüfte seine Handflächen. Sie waren feucht. Er klingelte. Ein Teil von ihm fühlte sich in alte Zeiten zurückversetzt, und im Geist summte er das lange, immer noch vertraute Läuten der Klingel mit. Die Tür öffnete sich. Dann stand Emily vor ihm.
»Na, wen haben wir denn da«, sagte sie. Myron konnte nicht sagen, ob in ihrer Stimme Überraschung oder Sarkasmus lag. Sie war etwas schlanker geworden, hatte ein bisschen mehr Farbe bekommen. Ihr Gesicht war ebenfalls schlanker, was ihre Wangenknochen betonte. Die Haare hatte sie kurz geschnitten und gestylt. »Wenn das mal nicht der Gute ist, den ich mir habe entgehen lassen.«
»Hi, Emily.« Mr Gesprächseröffnung.
»Wolltest du doch noch mal um meine Hand anhalten?«, fragte sie.
»Das hatten wir doch schon.«
»Aber damals hast du es nicht ernst gemeint, Myron. Damals habe ich Wert auf Ehrlichkeit gelegt.«
»Und jetzt?«
»Mir ist inzwischen klar geworden, dass Ehrlichkeit maßlos überschätzt wird.« Sie lächelte.
»Du siehst gut aus, Emily«, sagte Myron. Wenn er erst mal in Fahrt war, brachte er eine gute Zeile nach der anderen.
»Du auch«, sagte sie. »Aber ich helfe dir nicht.«
»Wobei hilfst du mir nicht?«
Sie verzog das Gesicht. »Komm rein.«
Er folgte ihr ins Haus. Das Haus war voller Oberlichter, gewölbter Decken und weißer Wände. Es wirkte sehr großzügig. Die Diele war mit teuren Fliesen ausgelegt. Sie führte Myron ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf eine weiße Couch. Die Böden waren aus Buchenholz. Es war genau wie vor zehn Jahren. Entweder hatten sie die gleichen Sofas nachgekauft oder die Gäste hatten sich extrem gut benommen. Es war nicht ein einziger Fleck zu sehen. Ein Zeitungsstapel in der Ecke war das einzige Zeichen von Unordnung. Auf den ersten Blick waren es hauptsächlich Boulevardzeitungen. Eine Schlagzeile der New York Post lautete SKANDAL! in riesiger 72-Punkt-Schrift. Sehr präzise.
Ein alter Hund schlich steifbeinig ins Zimmer. Offenbar versuchte er, mit dem Schwanz zu wedeln, bekam aber nur ein bedauernswertes Wackeln hin. Dann leckte er mit seiner trockenen Zunge über Myrons Hand.
»Guck mal«, sagte Emily. »Benny erinnert sich noch an dich.«
Myron erstarrte. »Das ist Benny?«
Sie nickte.
Als Myron und Emily anfingen, miteinander auszugehen, hatten die Eltern den überaktiven Welpen für Emilys jüngeren Bruder Todd gekauft. Myron war dabei gewesen, als sie ihn vom Züchter abgeholt hatten. Der kleine Benny war blinzelnd herumgetapst und hatte dann genau hier auf den Fußboden gepinkelt. Es hatte niemandem etwas ausgemacht. Benny hatte sich schnell an Leute gewöhnt. Er hatte jeden zur Begrüßung angesprungen und auf eine Art, wie es nur Hunde können, geglaubt, dass niemand ihm etwas Böses wollte. Jetzt sprang Benny nicht mehr herum. Er sah sehr alt aus. Er sah aus, als wäre er nur noch einen kleinen Schritt vom Tod entfernt. Plötzlich wurde Myron traurig.
»Du hast gut ausgesehen gestern Abend«, sagte Emily. »War schön, dich wieder auf dem Spielfeld zu sehen.«
»Danke.« Ein cooler Spruch nach dem anderen.
»Willst du was trinken?«, fragte sie. »Ich könnte dir eine Limonade machen. Wie in einem Tennessee-Williams-Stück. Limonade für den Gentleman, der zu Besuch kommt, obwohl ich bezweifle, dass Amanda Wingfield Limonadenpulver benutzt hat.« Bevor er antworten konnte, verschwand sie um die Ecke. Benny sah zu Myron auf und bemühte sich, durch milchige Schleier
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