Myron Bolitar 03 - Der Insider
stimmt.«
»Also habe ich sie vor zehn Minuten angerufen. Ich habe sie gebeten, nachzusehen, ob irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen ist.«
»Und?«
»Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat ein weißer Lieferwagen ohne Werbung gehalten. Es ist niemand ausgestiegen.«
»Dann wollen sie heute Nacht wohl losschlagen«, sagte Myron.
»Ja«, sagte Win. »Soll ich das verhindern?«
»Wie?«
»Ich könnte den Wagen, der dich verfolgt, außer Gefecht setzen.«
»Nein«, sagte Myron. »Lass sie weitermachen, damit wir erfahren, was sie von uns wollen.«
»Wie bitte?«
»Bleib einfach in der Nähe. Wenn sie mich entführen, komme ich vielleicht an den Boss ran.«
Win stieß einen missbilligenden Laut aus.
»Was ist?«, fragte Myron.
»Du machst eine einfache Sache unnötig kompliziert«, sagte Win. »Wir können die beiden doch eben aus dem Verkehr ziehen und dann dazu bringen, dass sie uns etwas über ihren Boss erzählen.«
»Ich habe gewisse Probleme mit der Umsetzung der Worte dazu bringen .«
»Ach, natürlich«, entgegnete Win. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung für meine moralische Minderwertigkeit. Selbstverständlich ist es weitaus klüger, dein Leben aufs Spiel zu setzen, als einem nichtsnutzigen Auftragsschläger einen kurzen Moment des Unwohlseins zu bereiten.«
Win hatte die Fähigkeit die Dinge so darzustellen, dass sie auf beängstigende Weise logisch klangen. Myron musste sich bewusst machen, dass Logik oft noch furchteinflößender war als Unlogik - besonders wenn Win daran beteiligt war. »Das sind nur Handlanger«, sagte Myron. »Die werden nichts wissen.«
Pause. »Da könnte was dran sein«, gestand Win dann ein. »Aber was ist, wenn sie dich einfach erschießen.«
»Das wäre absolut sinnlos. Sie verfolgen mich schließlich, weil sie glauben, ich wüsste, wo Greg ist.«
»Und ein Toter kann ihnen nichts mehr erzählen«, ergänzte Win.
»Genau. Sie wollen mich zum Reden bringen. Also behalt mich einfach im Auge. Wenn sie mich an einen gut bewachten Ort bringen ...«
»Ich komm schon rein«, sagte Win.
Das bezweifelte Myron nicht. Er ergriff das Lenkrad. Sein Puls fing an zu rasen. Es war leicht, die Möglichkeit, erschossen zu werden, in einer vernünftigen Analyse abzutun. Aber es war etwas ganz Anderes, einen Wagen in der Nähe von ein paar Männern zu parken, von denen man wusste, dass sie einem an den Kragen wollten. Win würde den Lieferwagen nicht aus den Augen lassen. Genau wie Myron. Wenn als Erstes eine Pistole erschien, würde die Lage geklärt werden.
Er bog vom Highway ab. Angeblich verliefen die Straßen in Manhattan in einem ordentlichen Gitternetz, in Nord-Süd-und Ost-West-Richtung. Sie waren nummeriert. Sie waren gerade. In Greenwich Village und Soho sah dieses Gitternetz aber aus, als hätte Dali es gemalt. Die meisten nummerierten Straßen waren verschwunden, nur einzelne schlängelten sich zwischen den Straßen mit richtigen Namen hindurch. Gerade oder systematisch war hier gar nichts mehr.
Zum Glück ging's auf die Spring Street geradeaus. Ein Fahrradfahrer raste an Myron vorbei, aber sonst war niemand zu sehen. Der weiße Lieferwagen stand genau da, wo er stehen sollte. Wie Jessica gesagt hatte, trug er keine Werbeaufschrift.
Die Fenster waren getönt, so dass man nicht hineinsehen konnte. Myron sah Wins Wagen nicht, aber das war ja auch der Sinn der Sache. Er fuhr langsam die Straße entlang. Als er am Lieferwagen vorbeikam, wurde der Motor angelassen. Myron fuhr zu einem Parkplatz am Ende des Blocks. Der Lieferwagen fuhr los.
Showtime.
Myron parkte den Wagen, stellte das Lenkrad gerade und schaltete den Motor aus. Er steckte die Schlüssel in die Tasche. Der Lieferwagen schob sich langsam voran. Myron zog den Revolver und legte ihn unter den Fahrersitz. Der würde ihm jetzt nichts nützen. Bei einer Entführung würden sie ihn als Erstes durchsuchen. Bei einer Schießerei wäre es reine Zeitverschwendung, das Feuer zu erwidern. Entweder kümmerte Win sich darum oder eben nicht.
Er legte die Hand auf den Türgriff. Angst schnürte ihm die Kehle zu, trotzdem machte er weiter. Er zog den Griff, öffnete die Tür und stieg aus. Es war dunkel. Die Straßenbeleuchtung in Soho war praktisch nutzlos - Minitaschenlampen in einem Schwarzen Loch. Das Licht, das aus den nahegelegenen Fenstern auf die Straße fiel, erzeugte eher ein unheimliches Glimmen als echte Erleuchtung. Plastik-Müllsäcke lagen auf der Straße. Die meisten waren
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