MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
Mühlstein auf seiner Seele.
Es war immer der gleiche: Ein groß gewachsener, schlanker Junge, kaum vierzehn Sommer alt, überwand die Mauern von Helmenkroon, übertölpelte die Wachen vor seinem Gemach, drang in seine Schlafkammer ein und versuchte, ihn mit seinem Schwert zu töten. Und mitten im tödlichen Schlag wachte Rhogarr von Khelm dann jedes Mal schweißgebadet und mit wild klopfendem Herzen auf. Der Traum fühlte sich so echt an, dass er wahre Todesangst empfand. Es dauerte jeweils geraume Weile, bis sein aufgewühltes Gemüt sich wieder einigermaßen beruhigte. Selbst der Branntwein, den der rüde herbeigebrüllte Leibdiener ihm dann eilends kredenzen musste, vermochte ihm keine Linderung zu verschaffen. Die Erinnerung an den Albtraum kreiste unentwegt durch Rhogarrs Kopf, während er sich unruhig auf dem Lager herumwälzte, bis ihn das erste Grau des Morgens aus dem Bett trieb - sehr zur Verwunderung der Wachen und zum großen Ärger der Köchin, die ihm zu ungewohnt früher Stunde das Morgenmahl bereiten musste.
Doch auch die herzhaften Speisen vermochten Rhogarr nach so einer Albtraumnacht nicht zu erheitern, ebenso wenig wie der Anblick der drei Gehenkten, deren Leichen nun schon seit Tagen am Galgen in der Mitte des Burghofes baumelten. Seit der Herrscher der Marschmark den Thron von Helmenkroon an sich gerissen hatte, blieben die Hingerichteten auf seinen Befehl so lange am Richtholz hängen, bis die Geier und Krähen nur noch ihre Knochen übrig gelassen hatten. Einerseits sollte das der Abschreckung dienen - und andererseits Rhogarrs Belustigung. Für gewöhnlich fand der nämlich allergrößtes Vergnügen daran, sich am Anblick der Opfer seiner Willkürherrschaft zu weiden. Für gewöhnlich - nicht aber heute. Rhogarr von Khelms Ahnung, was sein Traum zu bedeuten hatte, verfestigte sich nach der erneuten schlaflosen Nacht langsam, aber sicher zur Gewissheit, und er befürchtete das Schlimmste.
In dieser Nacht hatte er das Schwert in den Händen des Jungen erkannt - und es gab nicht den leisesten Zweifel: Es handelte sich um Sinkkâlion, das Königsschwert, nach dem er selbst seit nunmehr vierzehn Sommern völlig vergeblich suchte. Dabei hatten seine Truppen alle Regionen des Nivlandes durchsucht und jede Ecke und jeden Winkel durchkämmt. Doch alle Anstrengungen der Männer waren vergeblich gewesen. Sie hatten nicht die geringste Spur von Sinkkâlion entdeckt. Selbst die Vharuuls, seine unheimlichen Geschöpfe der Nacht, waren erfolglos geblieben. Und was hätte ihnen schon verborgen bleiben können - besaßen sie doch weit schärfere Sinne als alle anderen Bewohner von Mysteria? Als Jäger und Späher hatten die Vharuuls Rhogarr schon so manchen wertvollen Dienst erwiesen und zahllose Feinde und Widersacher aufgespürt. Kein abtrünniger Soldat und kein entflohener Gefangener war vor ihnen sicher und selbst der geschickteste Wilderer, Fischräuber oder Holzdieb konnte ihnen nicht entkommen. Doch auch die gefürchteten Vharuuls waren von der Suche nach Sinkkâlion mit leeren Klauen zurückgekehrt.
Dabei hätte Rhogarr ihnen das Schwert vielfach mit Gold aufgewogen, so sehr verzehrte er sich nach der kostbaren Waffe! Dass das Schwert ihn nun mit dem Tode bedrohte, und sei es auch nur im Schlaf, konnte nur bedeuten, dass …
»Bei allen Dämonen der Finsternis!« Mit einem wüsten Fluch unterbrach Rhogarr von Khelm den Gedanken, den er noch immer kaum zu Ende zu denken wagte. Dabei wusste er, dass er seinen Blick nicht länger vor der Wahrheit verschließen durfte. Wenn er seinen inneren Frieden wiederfinden wollte, musste er sich endlich Gewissheit verschaffen, ob seine Befürchtungen zutrafen oder nicht. Denn wenn sie zutrafen, dann musste er sich dringend wappnen und die nötigen Vorkehrungen treffen. Nur aus diesem Grunde hatte er nach langem Zögern nun endlich doch nach der Hexe geschickt und konnte es gar nicht mehr erwarten, dass dieser elende Dhrago mit ihr auftauchte.
Ein lautes Klopfen ließ Rhogarr auf dem Absatz herumwirbeln. »Ja!«, schrie er und eilte mit großen Schritten auf das Portal des Thronsaals zu, das soeben geöffnet wurde.
Ein Mann trat ein. Er war gut zehn Sommer jünger als Rhogarr und hatte ein hageres Adlergesicht mit hellen, stechenden Augen. Die rotblonden Haare fielen ihm weit in die Stirn. Ein sorgsam gestutzter rötlicher Bart umrahmte den schmallippigen Mund. Über seine linke Wange zog sich eine riesige, nur schlecht verheilte
Weitere Kostenlose Bücher