MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
Dorfplatz war ebenfalls menschenleer. Das Ziegeldach der kleinen Kirche, die sich gleich daneben inmitten des von einer brüchigen Steinmauer umgrenzten Friedhofs erhob, glänzte vor Nässe. Von den langfingrigen Blättern der alten Kastanie im Zentrum des Platzes troffen lange Wasserfäden und klatschten auf das Dach des unscheinbaren grauen Kastenwagens, der darunter parkte. Auf den ersten Blick kam es Niko so vor, als sei es der gleiche Wagen, den er am Vortag vor dem Geschäft von Herrn Schreiber gesehen hatte. Doch dann verwarf er den Gedanken so rasch wieder, wie er ihm gekommen war. Schließlich war es unwahrscheinlich, dass ein Handwerker aus Falkenstedt in dem abgelegenen Oberrödenbach zu tun hatte. Außerdem gab es bestimmt Tausende von grauen Kastenwagen im ganzen Land.
Die hölzernen Rollläden des Gemischtwarenladens an der Ecke waren heruntergelassen, das Neonschild unbeleuchtet. Dabei war es noch nicht mal zehn Uhr! Was nur bedeuten konnte, dass das einzige Lebensmittelgeschäft inzwischen ebenso dichtgemacht hatte wie die Dorfwirtschaft. Die hatte nämlich im Herbst ihren Betrieb eingestellt, wie Nikos Mutter ihm nach einem Telefonat mit Opa Melchior berichtet hatte. Seit Jahren verließen mehr und mehr Menschen das Dorf und so gab es für die Geschäfte einfach nicht mehr genug Kunden.
Wenn das so weiterging, würde Oberöderkaff in ein paar Jahren ausgestorben sein, überlegte Niko. Weil niemand mehr dort leben wollte! Er konnte das absolut verstehen, und noch im gleichen Augenblick bereute er es bereits wieder, dass er sich zu dem Abstecher zu Opa Melchior hatte überreden lassen. Er würde hier bestimmt vor Langeweile sterben.
»Na, so was. Das hätte ich ja nicht für möglich gehalten!« Die ironischen Worte seiner Mutter drifteten wie aus weiter Ferne an sein Ohr. »Tja, man lernt halt immer noch dazu.«
»Wie... was?«, stammelte Niko und wandte den Blick zu Rieke. »Was … ähm... meinst du damit?«
»Dich natürlich«, erwiderte die Mutter. »Oder besser gesagt: deine Superlaune! Nachdem du seit geschlagenen zwei Stunden ununterbrochen vor dich hin muffelst und ein Gesicht ziehst wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zur Hinrichtung, bist du sogar noch zu einer Steigerung fähig. Jetzt siehst du nämlich aus, als hättest du die Hinrichtung bereits hinter dir!«
»Haha, sehr witzig«, sagte Niko und kniff die Augen so finster zusammen, dass wahrscheinlich selbst der hartgesottenste Höhlentroll schlagartig die Flucht ergriffen hätte.
»Dabei weiß ich gar nicht, warum du so genervt bist. Einen freundlicheren Empfang kann man sich doch gar nicht wünschen.« Lächelnd deutete Rieke nach draußen. »Findest du nicht auch?«
Tatsächlich: Der Regen hatte schlagartig aufgehört und nun riss sogar die dunkle Wolkendecke auf und die Sonne trat dahinter hervor. Ihre Strahlen spiegelten sich in dem feuchten Film, mit dem die Bäume und Sträucher, die Wiesen und Felder überzogen waren, und ließen die Landschaft glänzen und leuchten wie in einem verführerischen Werbespot.
Rieke und Niko hatten das Dorf mittlerweile hinter sich gelassen und näherten sich bereits dem Ellerhof. Aus der kleinen Talwiese, die sich nun links der Straße entlangzog, stiegen dunstige Schlieren auf. Auch über dem dicht belaubten Wipfeldach des Waldes, der sich gleich dahinter erhob, standen kleine Wölkchen aus wässrigem Dampf. Und dann plötzlich spannte sich wie von Zauberhand ein riesiger Regenbogen über das Land.
Selbst Niko konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel sich hoben. Seine Mutter hatte recht, dachte er. Das sah wirklich so aus, als hätte jemand eine bunte Girlande zu ihrer Begrüßung an den Himmel gehängt. Bis zum Hof des Opas war es jetzt nicht mehr weit. Nach der scharfen Rechtskurve zwanzig Meter weiter vorne ging es noch rund zweihundert Meter geradeaus - und dann waren sie da.
Rieke bewegte das Lenkrad schon sanft nach rechts, um in die Kurve einzubiegen, als Niko mit einem Mal ein leicht bitterer Geruch in die Nase stieg - und im gleichen Augenblick sah er das Mädchen.
»Bremsen, Mama!«, schrie er entsetzt. »Jetzt brems doch endlich!«
KAPITEL 6
NEUIGKEITEN UND ERINNERUNGEN
N alik Noski war mit sich und der Welt zufrieden. Endlich war es so weit. Die lange Zeit des Wartens war vorbei. Die großen Ereignisse, auf die er nun schon seit so vielen Jahren hinarbeitete, waren ins Rollen gekommen. Und seit er am
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