MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
angestellt, zumindest nicht aus ihrer Sicht: ein paar kleinere Ladendiebstähle, na gut, und dann einige handgreifliche Auseinandersetzungen mit den Tussis aus der Clique ihres doofen Bruders. Zudem hatte Jessie die Prügeleien niemals angefangen, sondern sich immer nur gewehrt. Die Polizisten hatten ihr allerdings nicht geglaubt. Weil selbst ihr Bruder die dreisten Lügen seiner sogenannten Freunde bezeugt hatte, war Jessie am Ende immer die Gelackmeierte gewesen. Zum Glück war sie bislang immer noch mit einem blauen Auge, d.h. mit strengen Ermahnungen, davongekommen. Aber jetzt verhielt sich das anders. Jessie war seit Kurzem nämlich vierzehn und damit strafmündig, sodass jeder Konflikt mit dem Gesetz ernste Konsequenzen haben konnte.
Nicht auszudenken, wenn die Polizei herausfinden würde, dass sie den gesuchten Herrn Noski in der Hütte versteckt hatte! Das war mit Sicherheit ein Verstoß gegen das Strafgesetzbuch und würde ziemlichen Stress nach sich ziehen. Nicht nur mit der Polizei, sondern auch mit ihren Eltern. Schließlich hatte Jessie denen hoch und heilig Besserung gelobt und damit gerade noch verhindern können, dass sie in das strenge Internat musste, mit dem ihre Eltern gedroht hatten. Wenn es jetzt wieder Ärger mit der Polizei gab, würden Lena und Thomas schwer enttäuscht sein und ihre Drohung vielleicht doch noch wahr machen.
Und davor hatte Jessie eine Heidenangst. Eine ihrer früheren Freundinnen hatte das Internat, an das die Eltern dachten, für ein Jahr besucht und es ihr als Hölle auf Erden geschildert - schlimmer noch als jedes Sträflingslager! Schon deshalb musste sie unter allen Umständen verhindern, dass Rieke Niklas die Nerven verlor und zur Polizei ging. Es blieb ihr also nur eines übrig: Sie musste Niko selbst aufspüren, und zwar so schnell wie möglich. Vielleicht war er ja tatsächlich zu der geheimnisvollen Nebelwolke gegangen? Es war eine Spur, und Jessie beschloss, ihr zu folgen.
Gerade wollte sie die Hütte wieder verlassen, als sie durch eines der Fenster zwei Typen entdeckte, die schnurstracks auf sie zukamen. Es war ein älterer Mann mit grauen Bürstenhaaren, gefolgt von einem jüngeren mit einer rotblonden Mähne und einer kleinen Narbe auf der linken Wange. Jessie erkannte die beiden auf Anhieb: Das waren ihr Bruder Maik und dessen Vater Henk, von dem ihre Mutter sich schon kurz nach Maiks Geburt getrennt hatte. Womit Lena endlich einmal bewiesen hatte, dass sie doch einen einigermaßen klaren Verstand besaß. Henk war nämlich ein ziemlich übler Typ. Okay - für seinen starren Blick, der einem richtiggehend Angst einjagte, konnte er nichts. Das lag an der gläsernen Prothese, die sein linkes Auge ersetzte, das er bei einem Arbeitsunfall verloren hatte. Angeblich - denn selbst das nahm Jessie ihm nicht ab. Sie konnte ihn einfach auf den Tod nicht ausstehen und verstand bis heute nicht, warum ihre Mutter sich mit dem Fiesling überhaupt eingelassen hatte. Selbst Lenas Ausrede von der angeblichen »Jugendsünde« - bei Maiks Geburt war sie gerade mal achtzehn Jahre alt gewesen - wollte sie nicht gelten lassen. Jessie war jedenfalls heilfroh, dass sie mit Henk so gut wie nichts zu tun hatte.
Maik dagegen hing wie eine Klette an seinem Vater und hielt über all die Jahre regelmäßigen Kontakt mit ihm - zum Glück in Henks Wohnung. Lena sah das natürlich gar nicht gerne. Sie befürchtete nämlich völlig zu Recht, dass Henk einen schlechten Einfluss auf Maik hatte. Da ihm laut Gesetz aber ein Recht auf regelmäßigen Umgang mit seinem Sohn zustand, konnte sie nichts dagegen tun. Deshalb war Lena genauso erleichtert wie froh gewesen, als ihr Exmann vor einigen Jahren zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt worden war - wegen schweren Diebstahls und Körperverletzung. Maik hatte seinen Vater zwar im Knast besucht, aber ihr Kontakt war dadurch längst nicht mehr so intensiv wie früher.
Und das war auch gut so!
Maik konnte zwar immer noch ziemlich grob sein, aber so schlimm wie früher war er nicht mehr. Bis jetzt jedenfalls. Denn nun war sein Alter offensichtlich wieder auf freiem Fuß und der ganze Stress fing wohl wieder von vorne an.
»Oh, nein«, stöhnte Jessie leise auf. »Bitte nicht!«
Und auf eine Begegnung mit den beiden hatte sie erst recht keine Lust. Rasch schlich sie zur Rückseite der Hütte, öffnete ein Fenster und stieg nach draußen. Dann kniete sie sich direkt unter dem Fenster nieder und schmiegte
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