Mystic
und Andie schossen ihm durch den Kopf. Er verspürte den plötzlichen Drang, Andie anzurufen, sie für die Zurückweisung vom Vorabend um Verzeihung zu bitten, ihr zu sagen, was sie ihm bedeutete und dass er wollte, dass das, was zwischen ihnen war, weiterging, wenn dies alles vorbei war. Harold schien seinen Konflikt zu riechen.
»Mr. Gallagher?«, sagte er sanft.
»Beides«, stotterte Gallagher endlich.
Harold gestattete sich den Anflug eines leichten Lächelns. »Ehrlichkeit ist der Schlüssel zum Selbstverständnis.«
»Wer sind Sie?«, fragte Gallagher ärgerlich. »Was sind Sie?«
Harolds Lippen verzogen sich zu einem breiten, amüsierten Lächeln. Er winkte lässig mit einer Hand in Richtung Capitol. »Inzwischen bin ich Pensionär. Aber in der hiesigen Bürokratie kannte man mich als den Förderer. Sie können mich auch wie einen Baseballspieler-Scout oder einen literarischen Agenten sehen. Jemanden, der neue Talente aufspürt.«
»Haben Sie so auch Terrance Danby kennengelernt?«, hakte Gallagher nach.
»Jawohl, so ist es«, sagte Harold.
Jerry setzte sich auf, zehn Jahre schmerzvolles Grübeln klangen in seiner Stimme nach: »Was für Talente haben Sie denn aufgespürt, Harold?«
35
»Gehen Sie dem hier nach«, befahl Andie und warf dem wartenden Kriminalisten den rosa Notizzettel zu. »Wenn was dran ist, wenn sie ein Stück des Tagebuchs haben, rufen Sie mich sofort an.«
Der Beamte nickte und eilte aus dem überfüllten Raum.
»Hier haben wir noch einen!«, rief der Telefonwachhabende, ein extravaganter Mann von Anfang fünfzig. Chris Shaddock war dicklich und hatte sich sein rotes, lockiges Haar nachgetönt. »Der hier wohnt in Bellow Falls.«
»Shaddock, notieren Sie die Daten und faxen Sie sie dann an die Dienststelle in Rockingham«, gab Andie zurück. »Und –«
»Ich weiß, ich weiß«, stöhnte Shaddock. »Wenn was dran ist, sofort anrufen.«
»Genau«, sagte Andie.
Die »Bethel Barracks« der Polizei des Staates Vermont, wo sie und Lieutenant Bowman ihr Einsatzzentrum eingerichtet hatten, glichen immer mehr einem Hexenkessel. Telefone klingelten. Polizisten riefen sich Informationen zu. Faxapparate summten. Die Jalousien der Büros waren heruntergelassen worden, um das blendende Licht der Fernsehteams abzuhalten, die draußen auf dem Parkplatz gierig auf Neuigkeiten lauerten.
Jemand hatte durchsickern lassen, dass Andies Team den Mörder Charun nannte. Die sensationslüsternen Reporter stürzten sich darauf. WBZ - TV aus Boston hatte seine Nachrichtensendung mit einem Beitrag über den »Mythenmörder von Vermont« aufgemacht.
Um die Mittagszeit war Andie vor die Fernsehkameras getreten und hatte warnend darauf hingewiesen, dass sich jeder, der ein Stück des Tagebuchs einer Sioux-Frau mit einem kleinen goldenen Kruzifix habe, in großer Gefahr befinde. Seitdem waren im Einsatzzentrum mehr als dreihundert Anrufe und Hinweise von Leuten eingegangen, die behaupteten, sie wüssten, wo man ein Stück Tagebuch finden könnte.
Bisher hatten die Kriminalisten, die den Spuren nachgingen, drei Tagebücher aus der Zeit des Bürgerkriegs, die Briefe zweier alter Jungfern aus Richmond, Vermont, das Tagebuch eines Missionars, der unter den Apachen gearbeitet hatte, vier Kachina-Puppen der Hopi-Indianer, mehrere Schwarzweißfotos von Black Elk, dem Medizinmann der Sioux, und drei Pfeilspitzensammlungen zutage gefördert sowie das Angebot eines Mediums aus Burlington erhalten, die fehlenden Teile des Tagebuchs gegen eine bescheidene Belohnung und die Rechte an der Geschichte aufzuspüren.
Andie verbrachte jede Stunde fünfzehn Minuten mit Kriminaltriage und entschied, welchen Hinweisen sofort nachgegangen werden musste und welche warten konnten. Ein paar Beamte waren losgeschickt worden, um Chief Mike Kerris diskret zu überwachen. Einige andere sollten über Monsignore Timothy McColl Bericht erstatten.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach sieben. In fünfundvierzig Minuten sollte sie noch einmal live vor die Kameras treten. Sie griff sich eine Tasse Kaffee und sagte dem Beamten in der Telefonzentrale: »Ich bin in Verhörraum A. Stören Sie mich nur in dringenden Fällen.«
»Ich weiß«, stöhnte Shaddock. »Wenn ein Teil des Tagebuchs –«
»Nicht nur wegen des Tagebuchs«, unterbrach Andie. »Wenn ein Mann namens Patrick Gallagher anruft, stellen Sie ihn sofort durch.«
Shaddocks Kopf fuhr in die Höhe wie ein Periskop. »Bei der Polizei in Vermont haben wir keinen
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