Mythor - 023 - Befehle aus der Schattenzone
völligem Verzicht auf Nahrung verschwand das Hungergefühl nach spätestens zwei Tagen; jeder, der ernstlich gefastet hatte, wusste das. Aber galten solche Dinge noch in der Titanenstadt?
Nyala stand auf. Sie wusste immer noch nicht, wie ihr Kerker genau aussah. Die absonderliche, verwinkelte Bauweise dieses Verlieses ließ keine genaue Beobachtung zu; kein denkendes Hirn hätte sich die Konstruktion der Zelle merken können. Wozu auch?
Sie presste ihr Gesicht an eine der Öffnungen, die es in dem Mauerwerk gab. Auch sie waren eckig. Es gab Löcher, durch die das Wehgeheul der Gemarterten zu hören war.
Nyala weinte lautlos.
Sie wusste, dass sie nicht mehr lange würde standhalten können, nicht, wenn der Hunger so quälte, nicht, wenn der Durst brannte, nicht in dieser grässlichen Einsamkeit.
Sie leckte die Feuchtigkeit von den nassen Wänden. Vor ein paar Stunden hatte sie das zum erstenmal getan; sie hatte es vor Durst nicht mehr ausgehalten.
Nyala wusste nicht, was ärger zu ertragen war: die Demütigung, die darin lag, oder der Ekel vor einer Brühe, deren Aussehen sich die Frau nicht auszumalen wagte. Wo mochte Mythor jetzt sein? War auch er Gefangener des Bösen? Musste auch er leiden, gequält von Hunger und Durst, von Einsamkeit?
Nyala tastete sich durch den Kerker zurück an den Platz, an dem sie normalerweise reglos verharrte. Ihre Hand bekam etwas zu fassen. Etwas Warmes. Heißes Fleisch, unverkennbar. Gebratenes Fleisch an einem Knochen.
Der Hunger ließ jedes andere Gefühl vergessen. Nyala griff nach dem Knochen, setzte sich auf den Boden. Sie wollte gerade die Zähne in das Fleisch schlagen, als sie innehielt. Sie verstand nichts von diesen Dingen, aber sie fragte sich, warum man plötzlich so gütig war. Es gab kein trockenes Brot, kein abgestandenes Wasser zu trinken, aber man servierte ihr köstlichen Braten.
Ein grausiger Gedanke ergriff sie. Was war das für ein Fleisch, das sie essen sollte? Sie betastete den Knochen. Es musste ein großes Tier gewesen sein, eines mit armlangen Knochen.
Nyala schnupperte an dem Fleisch. Es roch nicht schlecht, ein wenig süßlich vielleicht. Was gab man ihr zu essen?
Sie legte das Fleisch zur Seite. Sie wagte den Gedanken nicht weiterzudenken, der sie überfallartig ergriffen hatte. Sie wagte auch nicht, ihn zur Seite zu schieben und den Hunger zu stillen, der sie quälte. »Bestien!« murmelte sie.
»Hehehe«, machte das widerliche Echo.
Gianton war eine Heimstatt des unfassbar Bösen. Nichts Schlechtes war denkbar, was hier nicht ausgeführt wurde, keine Grausamkeit, die nicht längst erprobt worden wäre.
Verlockend roch das Fleisch, aber sie aß nicht. Irgendwann schlief sie ein, irgendwann erwachte sie wieder. Die Zeit schien für die Tochter Herzog Krudes bedeutungslos geworden zu sein. Nichts hatte sich geändert, nur war das Fleisch verschwunden. An der Stelle, wo es gelegen hatte, stand nun eine Schale, angefüllt mit einer Art Brühe, einem stinkenden Sud, den kein normales Wesen hinuntergeschluckt hätte. Nyala wusste, dass die Bauern ihres Landes in Zeiten äußerster Hungersnot vieles hinuntergeschlungen hatten, was normalerweise als nicht essbar galt. Das fing bei Würmern und Engerlingen an und hörte bei weichgekochtem Leder auf. Sie zweifelte aber, dass jemals ein Hungernder einen Sud wie diesen hinunterbekommen hatte.
Zudem, sie war nicht irgendeine, sie war die Tochter des Herzogs Krude von Elvinon. Früher hatten die Mägde gebebt, wenn sie nur die Stirn gerunzelt hatte. Jetzt konnte sie niemandem gebieten. Keiner erschien, sie neu einzukleiden, ihr das warme, herrlich duftende Bad zu richten. Es gab keinen heißen Stein im Bett, keine Räucherpfanne, die Wohlgerüche in allen Räumen verbreitete, keinen Vorkoster, der alle Speisen auf kunstgerechte Zubereitung und Giftfreiheit zu prüfen hatte. Nichts war Nyala aus jener Zeit geblieben, nur schmerzliche Erinnerung.
Sie hielt den Napf mit dem Essen in der Hand; ein hölzerner Löffel stak darin. Sie hob den gefüllten Löffel zögernd zum Mund, dann schüttelte sie sich vor Ekel. Nein, so weit würde sie nicht gehen. Niemals würde sie sich so weit erniedrigen, einen derartigen Fraß hinunter zu schlingen.
Sie schob den Napf zur Seite. Unruhig machte sie einige Schritte in ihrem Kerker.
Und da war noch der Durst, den man nur stillen konnte, wenn man mit der Zunge die feuchten Wände ableckte, auch das eine Demütigung sondergleichen, aber niemand konnte sie sehen. Wirklich
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