Mythor - 104 - Inscribe die Löwin
Leben zu sehen, nichts«, stellte Tertish fest. »Ein unfreundliches Land.«
Es traf in der einen oder anderen Weise auf fast jeden Flecken zu, den die vier bislang gesehen hatten. Die Schattenzone war kein Platz für ein fröhliches, unbeschwertes Leben.
Mythor sah in die Höhe.
Der Dunst erfüllte den gesamten Gesichtskreis. Mythor versuchte zu schätzen und kam zu dem Ergebnis, daß ein Bauwerk von mehr als zehn Mannshöhen Ausdehnung in der Lotrechten nicht gesehen werden konnte. Der Nebel verschluckte alles und jedes.
»Und wie finden wir hier Inscribe?«
Robbin machte eine beruhigende Geste.
»Das Problem besteht nicht darin, Inscribe zu finden«, sagte er ernst. »Unser Augenmerk muß sich vornehmlich darauf richten, von Inscribe zunächst nicht bemerkt zu werden. Die Tanzende ist unberechenbar.«
»Selbst wenn…«, sagte Mythor.
Robbin schüttelte den Kopf.
»Wenn sie uns entdeckt, wird sie ihren Tanz beginnen, und dann ist unser Leben verspielt. Ihr Tanz ist so betörend, daß keiner ihr widerstehen kann.«
Mythor lächelte.
Er hatte die Stärke seiner Liebe zu Fronja durchfühlt, er wußte, was er getan hatte, um die Tochter des Kometen zu finden – und er glaubte nicht, daß irgendein Wesen der Schattenzone oder einer anderen Welt in der Lage war, sein Gefühl zum Wanken zu bringen.
Robbin wußte Mythors Reaktion zu deuten.
»Kein Hochmut«, warnte er. »Ich sagte bereits, daß selbst Pfader diesem Geschöpf verfielen und gestorben sind.«
Tertish warf einen Blick auf Mythor, der deutliche Sorge verriet; so ganz und gar kam sie immer noch nicht aus den eingefahrenen Denkgewohnheiten Vangas heraus – ein selbstsicherer, entschlossener Mann schien ihr manchmal immer noch undenkbar, selbst wenn dieser Mann Mythor hieß.
Robbin machte ein Zeichen. Die vier blieben stehen.
»Kannst du etwas sehen?«
Robbin zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht recht«, sagte er. »Es fühlt sich so an, als stünde jemand in der Nähe – aber es ist nicht sicher, dieses Gefühl.«
»Führe uns«, sagte Mythor.
»Wie du willst«, antwortete Robbin. Er änderte ein wenig den Kurs, und schon nach kurzer Zeit erwies sich, daß seine besondere Gabe ihn wieder einmal etwas Besonderes hatte finden lassen.
Die vier stießen auf eine Statue.
Es war ein Mann in seltsamer Tracht; erst als die vier unmittelbar vor ihm standen, konnten sie erkennen, daß dies kein Mann war, sondern eine Statue, ganz aus Erz getrieben.
»Eine unglaubliche Arbeit«, sagte Tertish, die schon manches Werk von Künstlerhand bewundert hatte. »Jede Pore, jede Falte ist erkennbar.«
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Mythor den Pfader. Der machte wieder ein Zeichen der Ratlosigkeit.
Auch Robbin konnte nicht sagen, was diese Statue an diesem Ort zu suchen hatte.
War sie ein warnender Hinweis?
Man hätte es glauben mögen, denn die Statue war die eines Verletzten. Eine lange, nadeldünne Klinge stak in der rechten Schulter der erzenen Gestalt.
Robbin machte ein betroffenes Gesicht.
»Es heißt«, sagte er zögernd, »daß Inscribe sich solcher Waffen bedient.«
»Und dies hat jemand als ewige Mahnung hier aufgestellt?« fragte Gerrek ungläubig. »Mitten in Inscribes Tanzebene?«
Der Einwand traf zu – schwerlich hätte die gefährliche Löwenfrau einen so handfesten Hinweis auf ihre Eigenart einfach in der Landschaft stehen lassen. Es gehörte Mut dazu, an diesem Ort eine solche Statue aufzurichten.
»Was machen wir mit dem Ding?«
Mythor beantwortete Gerreks Frage sehr schnell.
»Stehen lassen«, sagte er. »Wir gehen weiter.«
Sie brauchten nur ein paar Schritte zu tun, dann war die seltsame Gestalt im Nebel untergegangen. Robbin führte den Vierertrupp immer tiefer in die Nebelebene hinein, immer näher an Inscribe heran – so hoffte Mythor jedenfalls.
»Ich wittere etwas«, sagte Robbin plötzlich. »Duckt euch!«
Die drei warfen sich auf den Boden, während Robbin den Kopf hin und her drehte, als wolle er eine ferne Witterung aufnehmen.
»Was siehst du?«
»Nichts, aber…«
Robbin unterbrach sich.
Jetzt konnten es alle sehen.
Inscribe war erschienen.
Langsam schälten sich ihre Konturen aus dem fahlen Weiß der Nebelschleier. Nur der Oberkörper war zu sehen, der bloße Leib einer Frau – einer sehr schönen Frau, wie Mythor sofort feststellte.
Reich wallte die löwengoldene Mähne über Inscribes Schultern herab, fiel auf den weißhäutigen, schlanken Leib.
»Sie kann uns nicht sehen«, raunte Robbin, der
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