Mythor - 104 - Inscribe die Löwin
Trauer, unter der Mescal stets zu leiden gehabt hatte – aber es fehlte der Hang zur selbstgerechten Weinerlichkeit, der den Umgang mit dem Geschaffenen für manch einen zur Qual gemacht hätte.
»Dharaphin!« rief Mescal.
Jente, die schmerzerfüllt hinter Mescal stand, sah zum erstenmal, daß Mescals Konturen sich schärfer und deutlicher abzeichneten. Die Muskeln des Gesichts spannten sich ein wenig an, der Ausdruck gewann an Kraft und Stärke.
»Bruder!«
Von irgendwoher schien das Wort zu kommen, leise und schwach, mit einem Klang, der erfüllt schien von unstillbarer Sehnsucht.
Über Mescals Gesicht flog ein Lächeln.
»Hier bin ich!« rief er.
Das Gesicht auf dem Spiegel des Leeren Sees wandelte den Ausdruck. Ein wehmütiges Lächeln war zu erkennen.
»Calmes«, ließ sich die Spiegelschwester vernehmen. Jente folgerte aus dem falschen Namen, daß Dharaphin von der Existenz eines Spiegelbruders bislang ebenfalls keine Kenntnis gehabt hatte, daß sie vielmehr seine Existenz nur vermutet oder berechnet hatte.
»Bist du dort unten im See?« fragte Mescal.
»Überall bin ich«, murmelte Dharaphin. Jetzt zeigte ihr Gesicht wieder tiefe Traurigkeit. »Aber es tut gut, dich zu sehen.«
»Du kannst mich sehen?«
»Ganz genau, Bruder«, sagte die ferne Stimme. Beim besten Willen vermochte Jente nicht zu sagen, woher diese Stimme kam – ob aus einer der Nebelschwaden oder aus dem Spiegel des Leeren Sees.
»Wie kann ich zu dir kommen?« rief Mescal. »Sage es mir.«
Jente legte ihm eine Hand auf die Schulter, aber Mescal schüttelte sie mit einem Ruck ab.
»Versuche es nicht«, sagte Dharaphin. »Es wäre dein sicheres Verderben!«
Jente konnte sehen, wie Mescal erbleichte, dann verhärteten sich seine Züge wieder. Die Nähe der Spiegelschwester schien den Geschaffenen mit unerhörter Zuversicht und Kraft gleichsam aufzuladen.
»Ich will zu dir, Schwester!« rief Mescal. »Unter allen Umständen, selbst wenn es mich das Leben kosten sollte!«
Jente sah in Mescals Gesicht eine wilde Entschlossenheit, etwas zu unternehmen. Die Amazone warf über die Schulter einen Blick, sie suchte die Hilfe der anderen.
Aber die standen da und rührten sich nicht. Dies war Mescals Angelegenheit, und keiner der vier gedachte sich einzumischen.
»Bleib, wo du bist«, sagte Dharaphin. Ihr Bildnis begann sich allmählich aufzulösen, und das erfüllte Mescal mit tiefem Schrecken.
»Bleib!« rief er.
»Meine Zeit ist um«, sagte Dharaphin. »Lauf, Bruder, lauf fort, so schnell du nur kannst.«
»Warum?« schrie Mescal. »Was ist der Grund?«
Während sich das Bildnis von Mescals Spiegelschwester langsam auflöste, erklang noch immer ihre Stimme.
»Hüte dich vor Inscribe!«
Mescal ballte die Fäuste.
»Komm zurück!« rief er mit höchster Stimmkraft, und Jente erschrak, als sie die Wildheit und Energie spürte, die er in seine Stimme zu legen vermochte, die er sonst nur zum Jammern und Klagen verwendet hatte.
Dharaphin war verschwunden und blieb es.
Mescal richtete sich langsam auf. Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, was er gerade erlebt hatte.
»Verflucht bin ich auf dieser Erde«, murmelte Mescal. »Nichts soll mir gelingen. Ausgestoßen und verlernt soll ich leben unter Menschen, die mir ein Greuel sind und ich ihnen.«
Noch einmal brach er durch, der alte Mescal, weinerlich und jammernd, vor Selbstmitleid gleichsam zerfließend.
Er kam aber nicht mehr dazu, sich in dieses Gefühl zu vertiefen. Denn übergangslos stand auf den Stufen des Tempels am Leeren See die Herrscherin dieses Landes.
Inscribe.
Diesmal konnte man sie ganz sehen, die Nebel rings um den Tempel waren zerstoben. Selbst Mescal, der davon nichts verstand, mußte zugeben, daß Inscribe, dort wo sie Frau war, von berückender Schönheit war, schlank und wohlgestaltet. Und der Unterkörper drückte eine tierische Kraft, Geschmeidigkeit und Wildheit aus, die im gleichen Atemzug anzog und abstieß. Mit den Krallen ihrer Löwenpranken scharrte Inscribe über den Fels, ritzte tiefe Linien hinein, als wolle sie zeigen, was sie vermochte. Das Gesicht lächelte, aber der Löwenschweif bewegte sich heftig hin und her. Mescal sah, daß dort, wo bei einem Löwen die Quaste zu finden war, Inscribe ein schillerndes Etwas trug, das ihn einen Augenblick lang an eine Mischung aus Kristall und Blume erinnerte.
»Da seid ihr also«, sagte Inscribe.
Sie hatte eine unerhört ausdrucksvolle Stimme. In diesen kurzen Satz legte sie die Wärme
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