Mythos
sagte er, ließ sich auf das Sofa fallen und legte die Beine hoch. Sein Blick fiel auf ein Buch, das auf dem Fernseher lag. „Ich glaube, ich würde jetzt lesen. Und du?“
„Ich würde duschen und dann arbeiten.“
„Klar. Dann quälen wir uns nicht damit, verzweifelt nach einem Gesprächsthema zu suchen, sondern machen, was wir machen möchten.“
„Ich ziehe mich dann mal ins Bad zurück“, kündigte Tilly an und verschwand.
D’Albret versuchte, das Rauschen des Wassers in der Dusche zu ignorieren. Wieso nur war es ihm gelungen, das körperliche Begehren Yvonne gegenüber mit Erfolg zu unterdrücken, und nun erregte ihn schon der Gedanke an einen Frauenkörper unter der Dusche? Vielleicht, dachte er, weil seine Liebe zu Yvonne echte Liebe gewesen war, mit Bewunderung und Respekt.
Bei seiner Begegnung mit der Hure aber war der Damm, den er gegen die körperlichen Bedürfnisse errichtet hatte, gebrochen. Und es gelang ihm nicht, ihn wiederherzustellen. War er ernsthaft in Gefahr, sich fortan dem Laster der Wollust hinzugeben? Würde es helfen, selbst Hand anzulegen? Auch das wäre der Gebrauch der Geschlechtskraft außerhalb der normalen ehelichen Beziehungen. Selbst bei Katholiken, die keine Priester waren, widersprach Selbstbefriedigung deshalb dem Sinn gegenseitiger Hingabe und der Zeugung in wirklicher Liebe. In der Bibel wurde diese Sünde zwar nicht eindeutig verworfen. Doch wenn dort Unreinheit, Schamlosigkeit und andere Laster gegen die Keuschheit verurteilt wurden, war auch Masturbation gemeint. Die Schwäche, unter der die Menschen litten, war natürlich eine Folge der Erbsünde. Die um sich greifende Gottlosigkeit, Schamlosigkeit und die Verwilderung der Sitten, mit verursacht durch die Geschäfte mit dem Sex und der schrankenlosen Freizügigkeit, trugen ihren Teil dazu bei. Aber er machte es sich doch zu leicht, wenn er versuchte, nach anderen Ursachen zu suchen, als sich schlicht und einfach einzugestehen, dass er schwach geworden war, als er hätte stark sein müssen. War dies seine leibhaftige Begegnung mit dem Satan gewesen? Hatte Gott ihn geprüft?
Er hatte versagt. Er musste büßen. Sollte er sich, wie die Mitglieder von Opus Dei, einen stachelbewehrten Bußgürtel besorgen und täglich zwei Stunden anlegen? Sich einmal die Woche selbst geißeln? Nein, körperliche Qualen waren vielleicht ein Weg, Demut zu lernen und zu demonstrieren. Aber er musste sich innerlich reinigen, nicht durch Schmerzen ablenken.
Aber wie? Sicher nicht durch die Lektüre von Krimis.
Immerhin würde sie ihm helfen, nicht mehr an feucht glänzende Brüste und Schenkel zu denken, von denen weiche Lappen weißen Schaum wischten.
Er schaute in das Buch. Aber die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Er schloss die Lieder. Eine Melodie schlich sich in sein Bewusstsein.
Er entspannte sich. Und mit einem Mal war er völlig ruhig.
Seine Mutter hatte ihm das Schlaflied vorgesungen. Auf Deutsch, so wie es ursprünglich gedichtet worden war. Es war eine der wenigen Erinnerungen, die er an sie hatte. Sie ging immer einher mit einem Gefühl der Geborgenheit und Wärme, einem Bild von Sternen an einem Mobile, die das Licht der Nachtlampe reflektierten, und den Geräuschen und Gerüchen aus dem Kuhstall gegenüber dem Haus, die durch das gekippte Fenster ins Zimmer drangen.
Der einfachen Melodie von Brahms hatte auch Yvonnes Sohn Nicolas aufmerksam gelauscht, wenn d’Albret es ihm zur Nacht vorgesungen hatte. Was schließlich so gut wie jeden Tag der Fall gewesen war.
Während er das Lied leise summte, wünschte er sich, dort zu sein, am Bett dieses Kindes, für das er eine Weile fast so etwas wie ein Vater gewesen war.
Guten Abend, gut’ Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,
schlupf unter die Deckupf die De.
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.
Montag, 8. Juni, Madrid, Spanien
Etwas mehr als zwei Jahre war es her, dass Nora Tilly den Flughafen Barajas in Madrid besucht hatte. Eine angespannte Atmosphäre hatte dort geherrscht. Kurz zuvor waren bei einem Anschlag der ETA zwei Ecuadorianer gestorben. Die Bombe war in einem der Parkhäuser des neuen Terminal 4 explodiert.
Auch jetzt fühlte sie ein feines Kribbeln im Nacken, als sie von der Straße zwischen den Parkhäusern und dem eigentlichen Flughafengebäude aus zu dem wieder aufgebauten Block hinübersah.
Noch stärker war das Kribbeln auf dem Madrider Bahnhof Atocha
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