Nach all diesen Jahren
über Fernsteuerungen halten wollte.
Sarah gab ihren Plan auf, Raoul die Gutenachtgeschichte vorlesen zu lassen. Als es Schlafenszeit war, brachte sie Oliver ins Bett und bat Raoul, in der Küche zu warten. „Sieh einfach im Kühlschrank nach, wenn du Hunger hast. Das Abendessen entsprach wahrscheinlich nicht so ganz deinen Vorstellungen.“
„Weil ich so ein Snob bin?“
„Weil … weil mir bewusst ist, dass wir in verschiedenen Welten leben. In Afrika gab es diesen Abgrund zwischen uns nicht.“
„Du musst endlich die Vergangenheit loslassen.“
„Hast du doch auch nicht.“
„Was meinst du damit?“
„Du hast geglaubt, du könntest Oliver mit einer Ladung Geschenke kaufen – deine Kindheit hat dich so geprägt. Und als das nicht funktionierte, bist du sofort ungeduldig geworden.“
„Und du kommst nicht darüber hinweg, dass ich dich … dass ich Schluss mit dir gemacht habe“, parierte Raoul aufgebracht. „Ständig suchst du nach irgendetwas, was du kritisieren kannst – völlig gleichgültig was – nur weil du nicht damit umgehen kannst. Du hast recht, das Abendessen entsprach nicht meiner Vorstellung! Weil es einfach total stressig war! Ich wusste überhaupt nicht, was ich mit diesem Kind anfangen soll.“
Völlig verblüfft über dieses Eingeständnis bereute Sarah ihre Vorwürfe. Aber Raoul verhielt sich immer so kompetent und allwissend. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass er diesmal wirklich mit seinem Latein am Ende war.
„Es tut mir leid, Raoul. Ich hätte das über deine Kindheit nicht sagen sollen.“
„Schau, Sarah. Wir müssen irgendwie mit dieser Situation zurechtkommen. Dauernd zu streiten, ist dabei nicht besonders hilfreich.“
Sarah nickte. „Ich gehe jetzt mit ihm hoch und bade ihn. Du … du hast recht … es ist im Moment etwas schwierig.“ Sie rang sich ein schiefes Lächeln ab. „Wir werden wohl beide lernen müssen, damit umzugehen.“
„Ich glaube, das Eis zwischen euch ist gebrochen“, verkündete Sarah frohgemut, als sie eine Dreiviertelstunde später wieder herunterkam.
„Es würde mich sehr interessieren, was dich zu dieser Einschätzung veranlasst“, erwiderte er mit hochgezogenen Augenbrauen und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Du musst mir zuliebe wirklich nicht die Optimistin spielen. Ich weiß zwar zugegebenermaßen nicht viel über Kinder, aber es genügt ja wohl der IQ eines Goldfischs, um festzustellen, dass mein eigener Sohn nicht gerade viel von mir hält.“
„Ach was! Du bist es einfach nicht gewohnt, mit Kindern umzugehen. Man kann sich kaum vorstellen, dass du selbst einmal eins warst. Kinder lieben es, Grenzen auszutesten. Oliver auch. Er spielt mit seinem Essen, bis ich ihn ernsthaft ermahne. Wenn er ins Bett soll, fallen ihm jedes Mal noch tausend Dinge ein, die er unbedingt noch braucht. Noch eine Gutenachtgeschichte, noch fünf Minuten, ein Glas Wasser.“
„Gab es da nicht so etwas wie Disziplin?“
„Selbstverständlich. Aber man muss wissen, wo und wann man die Grenze zieht.“
Nachdenklich sah Sarah Raoul an. Er würde nie um ihre Hilfe bitten. Dafür war er viel zu stolz. Aber er brauchte ihre Hilfe. Außerdem würde es ihr Selbstbewusstsein ungemein stärken, dass sie es zur Abwechslung einmal wäre, die ihm half.
„Ich verrate dir ein Geheimnis“, scherzte sie. „Das Auto gefällt ihm jetzt doch! Ich packe die anderen Geschenke erst einmal weg und gebe sie ihm nach und nach.“
Sie wartete auf eine Explosion, aber Raoul lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Wie sehr ich mich doch geirrt habe, dachte er. Als ich sie wiedergesehen habe, kam sie mir unverändert vor. Aber ich habe mich getäuscht. Sie ist nicht mehr dieses naive Mädchen, das mich grenzenlos bewundert. Den Ausdruck eiserner Entschlossenheit hatte er vorher geflissentlich übersehen. Aber er war da – unmissverständlich. Genau wie dieses gewisse Etwas zwischen ihnen – und wenn sie es noch so sehr abstritt. Dazu kam aber noch etwas anderes, Undefinierbares …
Raoul empfand eine plötzliche Faszination, eine unbezwingbare Neugierde auf diese Frau.
„Hast du vor, mir den Kopf zu waschen?“, erkundigte er sich mit gespielter Furcht.
„Nein“, antwortete Sarah zuckersüß. „Aber ich werde dir ein paar Tipps und Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg geben. Und ich möchte, dass du mir genau zuhörst.“ Bei seinem Gesichtsausdruck musste sie lächeln. „Du hältst dich wirklich für allwissend,
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