Nach all diesen Jahren
stimmt’s? Tut mir leid, dich deiner Illusion berauben zu müssen.“
„Ach? Kommt jetzt eine Lektion? Willst du das Fräulein Lehrerin spielen?“
„Richtig. Ob es dir passt oder nicht!“
Raoul schenkte ihr ein strahlendes, verführerisches Lächeln. „Wow! Das ist ja mal etwas ganz Neues. Es ist schon eine ganze Weile her, dass mir jemand etwas beibringen konnte. Vielleicht entdeckst du ja, dass ich als Schüler sehr willig … und äußerst gelehrig bin.“
4. KAPITEL
Sarah betrachtete ihr Spiegelbild und runzelte unwillig die Stirn. Rosige Wangen und glänzende Augen – ich wirke aufgeregt, dachte sie schuldbewusst. Dabei versuchte sie doch, genau das tunlichst zu vermeiden! Sie wollte sich nicht auf Raouls Besuch freuen.
In den letzten vier Wochen war es ihr gelungen, sich kühl und distanziert zu geben. Sie tat so, als bemerke sie nicht, wenn er sie intensiv beobachtete und der Blick seiner funkelnden, schwarzen Augen auf ihr ruhte. Sie zog sich sogar möglichst unvorteilhaft an. Man hätte annehmen können, ihr Kleiderschrank enthielte lediglich ein paar alte Jeans, verwaschene T-Shirts und ausgeleierte Pullover und Jacken.
Nach wie vor war Sarah eisern entschlossen, ihre Beziehung zu Raoul kühl und reserviert zu halten. Sie konnte sich einen Fehler wie damals einfach nicht mehr leisten.
Allen Zweifeln zum Trotz unterstützte sie Raoul jedoch nach Kräften bei seinen Bemühungen, eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen. Oliver wurde von Mal zu Mal „zutraulicher“, und Raoul lernte allmählich, wie man mit einem Kind umging. Sie durfte sich also zu ihrem Erfolg als Vermittlerin beglückwünschen.
Darum habe ich so rote Wangen! redete sie sich ein.
Oliver freute sich tatsächlich auf Raouls Besuch. Er war sogar schon fix und fertig angezogen und wartete. Als es an der Tür klingelte, rannte sie schnell die Treppe hinunter. Sie lächelte, als sie ihren Sohn am Fenster erblickte, der sich die Nase an der Fensterscheibe platt drückte. Inzwischen war er schon mehrmals in Raouls Sportwagen mitgefahren. Wenn er groß wäre, hatte er seiner Mutter ernsthaft versprochen, würde er ihr auch so ein Auto kaufen.
„Bin ich für einen Nachmittag im Erlebnispark richtig angezogen, Fräulein Lehrerin“, scherzte Raoul, als sie die Tür aufriss.
„Ich hasse das, wenn du mich so nennst.“
„Unsinn! Es gefällt dir. Außerdem amüsiert es mich, dass du jedes Mal rot wirst.“
Wie auf Befehl spürte Sarah, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.
„Du solltest solche Sachen wirklich nicht sagen.“
„Warum?“
„Weil … weil es … weil man das nicht tut.“
Und – weil es ihre innere Ruhe bedrohte. Sie hatte ständig das Gefühl, sich auf dünnem Eis zu befinden. Raouls Charme, sein Lächeln und sein ernsthaftes Bemühen, sich der Aufgabe zu stellen, die sein ganzes Leben erschüttern musste, schwächten ihre Abwehr. Sie wünschte sich sehnlichst ihr altes Feindbild zurück. Damit konnte sie weit besser umgehen.
„Weil man das nicht tut? Jetzt hörst du dich wirklich an wie ein Fräulein Lehrerin. Wahrscheinlich muss ich mich gleich in die Ecke stellen.“
„Hör sofort auf mit dem Unsinn!“
Lachend hob er besänftigend die Hände.
Wütend funkelte Sarah ihn an. So kann es nicht weitergehen, beschloss sie. Wahrscheinlich wusste Raoul gar nicht, was er ihr zumutete, aber sie war inzwischen nervlich am Ende. Ich muss unbedingt heute noch mit ihm reden, nahm sie sich vor. Wir regeln die Besuchszeiten. Jetzt, wo alles so gut klappt, dürfte es ja keine Schwierigkeiten mehr geben, wenn er Oliver abholt. Da muss ich nicht mehr unbedingt dabei sein.
Mit anderen Worten: Die gemeinsame Zeit war vorbei. Raoul hatte recht gehabt. Es war wichtig gewesen, Oliver zu signalisieren, dass sie sich in allem einig waren. Jetzt würde es kein Schock mehr sein, wenn er erführe, dass Raoul sein Vater war.
Die Geschenke von der unglücklichen ersten Begegnung waren alle weggepackt, und Raoul hatte seinen Fehler nicht wiederholt. Allerdings hatte er eine Überraschung angekündigt, wenn sie in ihr Haus, das er ihnen inzwischen gekauft hatte, einziehen würden.
Wie sehr ihr Leben innerhalb weniger Wochen aus den Fugen geraten war, machte Sarah fast schwindlig.
Es war alles ein bisschen viel: Zuerst die Tatsache, dass Raoul plötzlich wieder in ihrem Leben aufgetaucht war, dann die Vater-Sohn-Beziehung. Und nun noch das Haus. Vor zwei Wochen hatten sie es gemeinsam besichtigt, und als Sarah zugegeben
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