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Nach alter Sitte

Nach alter Sitte

Titel: Nach alter Sitte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Breuer
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im Spiegel. Abgenutzt und verbraucht kam er sich vor. Er fand, dass Kommissar Wollbrand dazu einen passenden Kommentar auf Lager hatte. »Der in Ehren ergraute Ermittler sah sich an und wusste: Der Lack war ab. Er sah ungefähr so alt aus, wie er sich fühlte. Verdammt alt.«
    Er löschte das Licht und trat ans Bett. Dort lag bereits der Pyjama bereit, den er sich umständlich überstreifte. Dann saß er eine Zeit lang unbeweglich auf der Bettkante. Es war ganz still im Haus. Auch durch das gekippte Fenster drang kein Laut. Vielleicht, wenn er seine alten Ohren sehr angestrengt hätte, wären von fern vereinzelte Straßengeräusche vernehmbar gewesen. Alles fühlte sich seltsam leer an. Innen wie außen. Vielleicht war es nur die Anspannung im dunklen Kellerverlies gewesen, die nun von ihm abfiel. Die Anstrengung. Und er hatte Angst gehabt. Man klebt immer gleich viel am Leben, dachte Lorenz. Bist du jung, hast du noch viel vor dir und willst nichts davon versäumen. Bist du alt, bleibt dir nur noch wenig, aber dieses Wenige ist dir dafür umso wertvoller. Und wer wusste schon, was das Leben noch für einen Mann Mitte siebzig bereithielt? Auch wenn der Lack ab war, auch wenn es jeden Tag woanders schmerzte und die Zeit der großen Entscheidungen und der Kraftakte vergangen schien, es konnte dennoch immer etwas geschehen, was das Leben lebenswert machte. Bärbel, wie sie seine Hand gehalten hatte. Gustav und sein neuer Freund Alexander. Auch wenn er diese Art der Verbindung zweier Männer nicht verstand, es schien die beiden doch immerhin glücklich zu machen. Und warum auch nicht?
    Ächzend stand er auf und ging zum Schreibtisch, wo ein Bild seiner Frau stand. »Maria, was würdest du tun?«, fragte er leise. »Würdest du noch mal jemanden haben wollen, wenn ich es gewesen wäre, der dich allein zurückgelassen hätte?«
    Es war ihm, als höre er ihr herzliches Lachen, beinahe wie das Bärbels. Ihre klare Stimme, ihre Art zu sprechen, mit der sie die kompliziertesten Dinge immer so einfach ausdrücken konnte. Lorenz, du alter Jeck. Lebe doch einfach, was grübelst du denn? Deine Zeit vergeht, egal ob du sie nutzt oder nur darüber nachdenkst. Und wenn der Lack auch ab ist: Alte Möbel haben auch ihren Wert.
    »Du hast ja recht, altes Mädchen«, sagte er und strich liebevoll über das Bild. »Wäre ich zuerst gestorben, du hättest mehr draus gemacht als ich. Der Opa Bertold denkt zu viel und tut zu wenig.«
    Er betrachtete Marias Gesicht noch eine Weile, dann gab er sich einen Ruck und löste sich davon. Der Computer brummte noch und wartete darauf, ausgeschaltet zu werden. Lorenz bewegte die Maus, um den Bildschirm zu aktivieren und so zu sehen, ob er noch eine Anwendung offen hatte. Das Eingangsfach seines Email-Programms zeigte eine neue Nachricht. Der Name des Absenders elektrisierte ihn. Ambiorix hatte sich wieder gemeldet. Mit zitternder Hand öffnete Lorenz die Nachricht und las:
    Die Heilige wird zweimal sterben
    das Rad wird diesmal nicht zerbrechen
    der Alte hat noch viele Erben
    wie konnt der Junge sich erfrechen?
    Ob Opa Bertold wiederfind
    sein lang verschollnes Lieblingskind?
    Denn gibt er seine Ohnmacht zu
    Vielleicht findet das Kind dann Ruh?
    Lorenz atmete tief durch und griff zum Telefon. Er drückte die Kurzwahltaste für Ritas Handy. Als seine Enkelin sich meldete, sagte er: »Mein Engel, wir haben ein Problem.«

27. Kapitel
    Ein unkontrolliertes Zucken ging durch den Körper der Frau. Er wusste genau, sie war ohne Bewusstsein. Mit dieser Dosis Halothan war sie sicher für Stunden weg. Gut für die Schlampe, dachte er. Sie würde schon genug mitbekommen, wenn sie wieder aufwachen sollte. Falls sie noch einmal aufwachen sollte.
    Und was glaubten diese Idioten denn? Dass dieser dumme Eifeler Junge in der Lage gewesen wäre, seinen Weg zu gehen?
    Der Mann packte das große hölzerne Rad, das an der Wand lehnte, und rollte es zu dem am Boden liegen Körper. Die Anstrengung ließ Wellen brutalen Schmerzes durch sein Hirn fluten. Er krümmte sich, zwang sich dann wieder zu einer aufrechten Haltung. Es musste gehen, jetzt durfte er sich keine Schwäche erlauben. Er legte das Rad neben der Frau ab, verglich die Länge ihrer Glieder mit den Speichen. Das würde schon passen, wenn er mit ihr fertig war. Er ging zum Eingang und lauschte in die Nacht. Alles war still. Dann zog er die Tür zu und griff zu der schweren Eisenstange. Noch einmal tief durchatmen. Noch einmal den Schmerz kontrollieren. Er war

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