Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
Vom Netzwerk:
noch trauriger als alles, was ich mir bei meinen eigenen Erklärungsversuchen ausgemalt habe.
    Auf Nicoles MP3-Player läuft jetzt wieder etwas Langsames, die Musik scheint immer zäher zu fließen, fast bis zum völligen Stillstand. Ich bedanke mich bei Ben und verabschiede mich von den beiden, die mir ernst zunicken.
    So unendlich traurig mich die tragische Verkettung all dieser Umstände auch macht, so breitet sich in mir doch auch ein leises Gefühl der Erleichterung aus. Zum ersten Mal merke ich, dass ich nicht die Einzige bin, die nichts Böses wollte und dennoch auf irgendeine Weise an Davids Tat mitbeteiligt war, und das hilft mir, es für einen Moment anders zu sehen als in den vergangenen Wochen. Während ich über den leeren Schulhof gehe, ist das, was ich denke: Ich kann nichts dafür. Sie können nichts dafür. Wir haben alles richtig gemacht.

23
    Â»Kannst du mir das erklären?«, fragt Jannik.
    Er hält mir sein Handy unter die Nase. Auf dem Display ist ein Foto, das Ben und mich im Auto zeigt, Nicole ist nicht darauf zu sehen.
    Wir sitzen auf seinem Bett. Er hält Abstand, als könne er meine Nähe nicht ertragen.
    Â»Das ist der Bruder einer Freundin des getöteten Mädchens.«
    Â»Was hast du mit den Freundinnen dieses Mädchens zu schaffen? Und mit deren Brüdern? Ach, ich will es gar nicht wissen!«
    Â»Lass mich raten, Sandra hat das Foto gemacht?«
    Â»Du immer mit deinem Verfolgungswahn! Das Foto ist von Patrick, wenn du es genau wissen willst.«
    Und der hat es bestimmt von Sandra zugeschickt bekommen. Sie ist bei der Durchführung ihrer Intrigen raffinierter geworden. Sie benutzt jetzt andere Leute für ihre Zwecke. Sie hat sich wahrscheinlich bei Patrick ausgeheult, hat ihm das Foto geschickt und Patrick hat es an Jannik weitergeleitet. Vielleicht hat sie Patrick auch gebeten, Jannik gegenüber nicht zu erwähnen, dass das Foto von ihr ist. Nur zur Sicherheit, könnte sie gesagt haben. Bitte, Patrick. Weil Maike doch so schlecht auf mich zu sprechen ist.
    Â»Du glaubst mir nicht mehr«, sage ich.
    Â»Du machst es mir auch nicht gerade einfach. Patrick hat erzählt, dass du mit diesem Typen sehr vertraut gewirkt hast.«
    Â»Habe ich nicht! Er hat mir nur ein paar Zusammenhänge erklärt. Katja und David waren ineinander verliebt.«
    Â»Wer zum Teufel ist Katja?«
    Â»Das tote Mädchen.«
    Â»Ganz egal, worüber ihr geredet habt, offenbar seid ihr euch dabei ziemlich nahegekommen!«
    Â»Unsinn. Auf dem Rücksitz des Autos hat seine Schwester gesessen.«
    Â»Da konntet ihr euch natürlich nicht völlig gehen lassen.«
    Â»Hör auf damit!«
    Â»Ist er der Grund, warum du nicht mit mir schlafen willst?«
    Ich fange an zu weinen. Eines der wenigen Dinge, die bei mir noch verlässlich funktionieren, ist das Weinen. Ich will es nicht und es geschieht trotzdem. Immer wieder. Wie bei meiner Mutter. Vielleicht hasse ich es deswegen so sehr an ihr. Weil es mir den Spiegel vorhält.
    Â»Das zieht nicht mehr«, sagt Jannik.
    Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, es ist heiß und feucht. Ich weine um David und Katja, um ihre vergebliche Liebe, und um die Liebe zwischen Jannik und mir, die zwar noch vorhanden, aber irgendwie nicht mehr abrufbar ist, weil alles falschläuft, was diese Liebe am Leben erhalten könnte. Sie ist schockgefroren, genauso wie das, was zwischen David und Katja gewesen ist. Ich versuche, es Jannik zu erklären. Ich will alles, was Ben mir erzählt hat, an ihn weitergeben. Er muss es doch verstehen! Aber meine Sätze sind zusammenhanglos und erreichen ihn nicht.
    Â»Das Schlimme ist«, sagt er, »dass es fast schon egal ist, ob du was mit diesem Typen hast. Es ist sowieso beinahe alles kaputt.«
    Ich klammere mich an Jannik fest und weine sein T-Shirt nass. Einen Moment lang lässt er es geschehen.
    Â»Komm, lass uns miteinander schlafen!«, schluchze ich.
    Alles wird wieder gut werden. Wenn wir miteinander schlafen, wird alles wieder gut.
    Jannik befreit sich aus meiner Umarmung, er sieht entsetzt aus, fast angeekelt. Er steht vom Bett auf. Ich falle mit dem Oberkörper nach vorn, der durch nichts mehr gehalten wird. Mein Gesicht, meine Tränen in der Bettdecke.
    Â»Ich brauche Zeit für mich, zum Nachdenken«, sagt er. »Ich weiß nicht, wie das mit uns weitergehen soll. Hör zu, ich bringe dich nach Hause. Ich

Weitere Kostenlose Bücher