Nach dem Amok
lebensfroher Mensch. Es drückt nur momentan so viel auf ihre Schultern.«
»Gerade dann braucht sie Hilfe.«
»Aber ich bin doch für sie da!«
»Du kannst nicht alles auffangen, Schatz.«
Stefan kommt dazu und unterbricht die Unterhaltung der beiden. Sie entfernen sich aus meiner Hörweite. Ich ziehe mir die Bettdecke bis über die Ohren und fühle mich sicher, wie unter der Wasseroberfläche eines stillen Sees. Ich brauche keine Hilfe. Ich brauche nur Kim.
Der nächste Tag ist fast noch schlimmer als die letzten, denn es ist Montag und ich sehe Jannik zum ersten Mal nach der Trennung wieder. In den Pausen drücke ich mich in den hintersten Ecken herum, um ihm nicht begegnen zu müssen, doch einmal, als wir nach dem Klingeln wieder in unsere Klassen gehen, sehe ich ihn, und natürlich hat er Sandra im Schlepptau. In Mathe bekommen wir unsere Arbeiten zurück und wie befürchtet habe ich eine glatte Fünf. Und als wäre das noch nicht genug, empfangen mich meine Eltern mit ernsten Mienen, als ich von der Schule nach Hause komme. Sie wollen mit mir reden, sagen sie. Aber dann führen sie doch nur Selbstgespräche.
»Du kannst doch nicht einfach so über Nacht wegbleiben, wenn am nächsten Tag Schule ist!« Papa.
»Wieso bist du überhaupt so spät noch weggegangen, ohne uns Bescheid zu sagen? Die Diskussion hatten wir doch schon mal!« Mama.
»WeiÃt du eigentlich, wie unangenehm es war, als diese Kim hier angerufen hat, um uns zu sagen, dass du bei ihr bist, dass es dir schlecht geht und du geweint hast und dass wir dich besser dort schlafen lassen sollten? Ich werde mich mit ihren Eltern unterhalten müssen. Du kannst diesen Leuten doch nicht derart zur Last fallen!« Papa.
»Und wie sieht das denn aus! Als wären wir nicht in der Lage, dir die Unterstützung zu geben, die du brauchst. Als wären wir schlechte Eltern!« Mama.
»Was ist denn überhaupt passiert? Wenn es dir nicht gut geht, kannst du doch mit uns reden. Du musst damit doch nicht zu fremden Leuten gehen!« Papa.
Wahrscheinlich haben sie gar nicht bemerkt, dass ich die ganze Zeit über kein einziges Wort gesagt habe. Sie schicken mich in mein Zimmer und sind sich wieder einmal nicht einig darüber, ob, und wenn ja, wie sie mich bestrafen sollen.
Es gibt nur zwei gute Aspekte an der Sache. Der eine ist, dass Kim ihnen offenbar nicht gesagt hat, warum es mir schlecht geht. Ich habe keine Lust, mich von meinen Eltern wegen Jannik bemitleiden zu lassen. Der andere positive Aspekt ist â und der ist sogar noch viel wichtiger â, dass die beiden auch nicht mit Kim über die Situation gesprochen haben, von der Kim nichts wissen darf. Das bedeutet, dass nicht alles verloren ist.
»Und wieso haben wir seit Wochen keinen Test und keine Klassenarbeit mehr von dir gesehen? Du hast doch bestimmt irgendetwas zurückbekommen. Hast du etwa auch noch Probleme in der Schule?«
Nur wenige Minuten, nachdem ich in mein Zimmer geschickt wurde, steht Papa in der Tür. Er hat mich mit seiner Ansprache kalt erwischt. Ich hätte mich auf dieses Gespräch vorbereiten müssen, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis es stattfinden würde. Natürlich passiert es in dem Moment, wo ich es am wenigsten gebrauchen kann. Mein Kopf ist gerade jetzt so überladen, dass nur noch Trotz darin Platz hat.
»Was gehtâs dich an«, sage ich.
Einen Augenblick lang ist er still, perplex, denn ich gebe nicht oft solche patzigen Antworten. Dann poltert er los.
»Eine ganze Menge geht mich das an, junges Fräulein!«
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, tönt Mamas Stimme hinter ihm.
»Sieht so aus, als bekäme deine Tochter neuerdings schlechte Noten«, klärt er sie auf.
»Was willst du uns eigentlich noch alles zumuten?«, sagt sie in gequältem Tonfall.
Sie ist nur eine Stimme, denn ich kann sie immer noch nicht sehen, sie wird komplett von ihm verdeckt. Wie klein sie geworden ist.
»Ich euch?«
»Natürlich du uns!«, schnauzt er mich an. »Als hätten wir nicht schon genug Probleme!«
»Vielleicht tun wir ihr ja unrecht«, sagt sie, als würde sie es gern glauben wollen. »Oder hast du etwas von schlechten Noten mitbekommen, Achim?«
»Zeig uns bitte sofort die Arbeiten, die du in den letzten Wochen zurückbekommen hast!«, fordert mein Vater mich in einem Ton auf, der keinen
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