Nach dem Bankett.
sich unentwegt aus, wie ihre Erscheinung auf die Masse wirken mochte. Sicher sahen die Leute sie genauso wie sie in dem Heftchen beschrieben war: als armes Landmädchen, das seinen Körper verkaufte, um in der Welt hochzukommen. Sie glaubte zu bemerken, daß ein Mann in mittleren Jahren sie mit unverschämten Blicken anstarrte. ›Was schert mich der Sozialismus?‹ mochte er denken. ›Wo dieses Frauenzimmer die Männer mit schamlosen Tricks verführt hat? Man sagt von ihr, daß sie ihren Ehrgeiz keine Sekunde lang vergessen hat – selbst wenn ihr Körper vor Liebe glühte. Bestimmt ist sie irgendwo kalt. Wo wohl? Vielleicht am Hintern?‹
Ein paar Schulmädchen starrten zu Kazu hinüber, als bestaunten sie ein Ungeheuer.
Kazus Wangen röteten sich vor Scham. In ihren Ohren rauschte es, und sie glaubte Worte zu hören wie »Schlafzimmer«, »Heimliches Verhältnis« »Liebelei«, »Kokotte«, »Aufreizend«, »Wollüstig«. Dieser falsche Wortschmuck der Broschüre glitzerte und funkelte jetzt in der Menge. Die Worte, die aus Kazus Munde kamen: »Reform der Präfekturverwaltung«, »Positive Politik gegen die Arbeitslosigkeit«, felen zu Boden wie ein Schwarm sterbender Termiten. Die Schmähworte, die sie von den Lippen der Hörer ablas, hatten die Farbe rohen Fleisches, das rot im Sonnenschein aufglänzte. Sie alle – der alte Spaziergänge mit dem Stock, die solide selbstgefällige Hausfrau, das junge Mädchen im Strandkleid mit den bloßen Schultern, der Laufbursche – schienen an Kazus Fleisch zu nagen und mit satten Augen zu ihr aufzublicken.
Obgleich Kazu im Schatten stand, war es ihr unerträglich heiß. Sie fuhr for zu sprechen und versuchte nicht einmal, sich wie gewohnt mit dem eisgekühlten Tuch das Gesicht abzuwischen. Ihr rann der kalte Schweiß herab, bis ihr ganze Körper naß war. Sie hatte das Gefühl, daß die Augen der Zuhörer sie Stück fü Stück entkleideten, bis sie nackt dastand. Die Blicke der Menge gruben sich in ihren Nacken, fraßen sich in ihre Brust und glitten zu ihrem Unterleib hinab Unsichtbare Klauen schienen sie in Stücke zu reißen.
Diese grauenhafte Tortur versetzte Kazu allmählich in den rauschhaften Zustand einer Märtyrerin. An der Bahnüberführung ertönte ein Klingelzeichen und die schwarz-weißen Schranken senkten sich aus dem grellblauen Himme herab. Ein langer Vorortzug ratterte mit donnerndem Geräusch vorbei, und an den Fenstern drängten sich die Menschen, die alle mit neugierigen Blicken zu Kazu hinüberstarrten.
Schließlich hob Kazu den Blick zum blauen Himmel, wie eine Frau, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Über den niedrigen Dächern der Vorstadthäuse stauten sich die Kumuluswolken, strahlendhe11 und majestätisch, bis zum Zeni des Himmels.
Kazu beendete ihre Rede, und der Lastwagen brachte sie, einer Ohnmacht nahe, zum nächsten Bestimmungsort.
Zu diesem Zeitpunkt begann auch die Wahl der Bezirksabgeordneten. Die konservative Partei hatte das Recht, dreitausend Lautsprecher einzusetzen, nämlich für jeden Kandidaten einen. Über diese dreitausend Lautsprecher, die an den wichtigsten Straßenecken Tokios aufgestellt wurden, begann eine wahre Kanonade von Hetzreden gegen Noguchi. Die Reformpartei konnte zur Wahl der Bezirksabgeordneten höchstens vierhundert Kandidaten stellen, so daß man auch nur vierhundert Lautsprecher einsetzen durfte.
Zugleich begannen enorme Summen Geldes in die Kassen der konservativen Partei zu rollen. Das Geld strömte ihnen nur so zu, während Kazus Fonds zu versiegen drohte. Auch waren alle Pläne zur Beschafung neuen Geldes für die Reformpartei im entscheidenden Moment gescheitert. Am 8. August war es klar, daß alles mit krachendem Getöse zusammenstürzen würde. Keine einzige Zeitung war jetzt noch von Noguchis Sieg überzeugt.
Der Tag vor der Wahl, der 9. August, war ein dunkler, trüber Tag, ein Rückfall in die Regenzeit. Es herrschte drückende Schwüle und regnete unaufhörlich. Yamazaki hatte die ganze vergangene Nacht damit verbracht, das Branchentelefonbuch durchzusehen und eine Liste von fünfzigtausend Leuten zusammenzustellen, denen er – im Namen des Parteivorsitzenden Kusakari – Telegramme folgenden Inhalts schicken wollte: »Noguchi gefährdet, erbitten Beistand.« Am Morgen des 9. August gab er diese Telegramme bei der Arbeiterunion des Nachrichtendienstes auf und bat, sie vorrangig abzufertigen und keine größere Anzahl anderer Telegramme
Weitere Kostenlose Bücher