Nach Dem Sommer
Sam liebenswürdig. »Von unserem Tag ist doch noch jede Menge übrig. Außerdem ist es schön, mal einen richtigen ... Gefühlsausbruch von dir zu erleben. Sonst bist du ja immer so verdammt stoisch.«
Darüber musste ich lächeln. »Stoisch? Gefällt mir.«
»Dachte ich mir. Aber ich war froh, mich wenigstens einmal nicht wie ein Weichei neben dir zu fühlen.«
Ich prustete los. »So würde ich dich nicht unbedingt beschreiben.«
»Wie, du findest nicht, dass ich im Vergleich zu dir ein zartes Pflänzchen bin?« Abermals lachte ich auf. »Wie würdest du mich denn beschreiben?«, drängte er.
Nachdenklich lehnte ich mich auf dem Beifahrersitz zurück. Sam warf mir einen zweifelnden Blick zu, absolut berechtigterweise, denn mit Worten konnte ich nicht so gut umgehen - zumindest nicht mit solchen abstrakten Beschreibungen.
»Empfindsam«, probierte ich es.
Sam übersetzte: »Heulsuse.«
»Kreativ.«
»Total emo.«
»Tiefsinnig.«
»Feng-Shui.«
Ich schnaubte vor Lachen. »Wie kommst du denn bitte von >tief-sinnig< zu Feng-Shui?«
»Na, weil doch beim Feng-Shui alles total tiefsinnig ist. Zum Beispiel wie man die Möbel und Pflanzen und den ganzen Kram anordnet.« Sam zuckte mit den Schultern. »Damit man Ruhe findet. Zenmäßig. Oder so. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, wie das alles abläuft, aber tiefsinnig ist es auf jeden Fall.«
Spielerisch boxte ich ihn auf den Arm und sah dann wieder aus dem Fenster. Bald würden wir zu Hause sein. Nun fuhren wir zwischen einer Gruppe Eichen hindurch, die den Weg zum Haus säumten. Trockene, tote Blätter in mattem Orangebraun hingen noch immer an den Zweigen und schaukelten in der Brise, als warteten sie auf den endgültigen Windstoß, der sie mit sich zu Boden reißen würde. Genauso war Sam: vergänglich. Ein Blatt - ein Stück Sommer, das sich so lange wie möglich an einem gefrorenen Zweig festklammerte.
»Du bist traurigschön«, sagte ich schließlich, ohne ihn dabei anzusehen. »Wie deine Augen. Du bist wie ein Lied, das ich als Kind kannte und dann wieder vergessen habe, bis ich es auf einmal wieder hörte.«
Eine Weile war es still, bis auf das Surren der Räder auf der Straße. »Danke«, sagte Sam dann leise.
Wir fuhren nach Hause und verschliefen den Nachmittag in meinem Bett, unsere Beine in den Jeans miteinander verschlungen und mein Gesicht in seinem Nacken vergraben. Im Hintergrund murmelte das Radio. Als es Zeit fürs Abendessen war, gingen wir in die Küche, um etwas Essbares zu suchen. Während Sam mit äußerster Sorgfalt ein paar Sandwiches belegte, versuchte ich, Olivia anzurufen.
John ging ans Telefon. »Tut mir leid, Grace, sie ist nicht da. Soll ich ihr was ausrichten oder soll sie nur zurückrufen?«
»Zurückrufen reicht«, versicherte ich mit dem vagen Gefühl, Olivia im Stich zu lassen. Ich legte auf und ließ geistesabwesend einen Finger über die Theke gleiten. Was sie gesagt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf: ein blöder Grund zu streiten.
»Ist dir aufgefallen«, fragte ich Sam, »wie es an der Haustür gerochen hat, als wir reinkamen? Direkt an der Treppe?«
Sam reichte mir ein Sandwich. »Ja.«
»Nach Pipi«, fuhr ich fort. »Wolfspipi.«
Allzu glücklich schien Sam nicht darüber. »Ja.«
»Was glaubst du, wer das war?«
»Ich glaube gar nichts«, entgegnete Sam. »Ich weiß es. Das war Shelby. Ich kann sie riechen. Sie hat auch wieder auf die Veranda gepinkelt. Das hab ich schon gestern gemerkt, als ich da draußen war.«
Ich musste an ihre Augen denken, wie sie mich durch mein Zimmerfenster angestarrt hatten, und verzog das Gesicht. »Warum macht sie das?«
Sam schüttelte den Kopf, seine Antwort klang unsicher. »Ich hoffe nur, dass es dabei um mich und nicht um dich geht. Hoffentlich folgt sie nur mir.« Seine Augen wanderten den Flur entlang zur Haustür; in der Ferne hörte ich ein Auto die Straße herunterkommen. »Das ist sicher deine Mom. Ich verschwinde mal lieber.«
Stirnrunzelnd sah ich ihm nach, als er mit seinem Sandwich in meinem Zimmer verschwand, die Tür leise hinter sich zuzog und alle Ängste und Sorgen wegen Shelby draußen bei mir ließ.
Vor dem Haus rollte das Auto in die Einfahrt. Ich nahm meinen Rucksack und setzte mich an den Küchentisch, sodass ich über den Hausaufgaben saß, als Mom hereinkam.
Mom wirbelte in die Küche, warf einen Stapel Papiere auf die Theke und brachte einen Schwall kalter Luft mit herein. Ich zuckte zusammen und hoffte, dass das Sam hinter meiner
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