Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
bot.
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Mariposa huschte davon. Sie nahm eine Kerze vom Küchentresen, zündete sie an und stieg nach oben, um die anderen Zimmer abzugehen. Dort waren noch mehr verbogene Fußböden zu sehen. Noch mehr abblätternde Wandfarbe und Tapeten, die sich lösten. Zerfetzte Vogelnester und verschimmelte Kamine. Die Räume waren groß, und sie stellte sich vor, dass hier einmal eine vielköpfige Familie gewohnt hatte, die Kinder im oberen Stock, wo man ständig ihr Fußgetrappel beim Herumtoben und Spielen hörte, während die Eltern unten saßen, Zeitung lasen und Kaffee tranken und durch die geöffneten Fenster der kühle Hauch des Herbstes hereindrang.
Sie hielt sich von den Fenstern fern, weil Regen und Wind gegen das Haus peitschten, und schützte die Flamme mit der Hand, damit sie nicht verlosch. Sie betrat ein Zimmer, in dem die herabhängende Tapete im Wind flatterte und die Schranktür nur noch in einer Angel hing. Im Licht der Kerze bemerkte sie die Ummantelung des Kamins, die mit handgeschnitzten Rosenranken verziert war. Sie berührte die Ranken und die Knospen und ließ ihre Fingerkuppen über die Verzierung gleiten, die sich immer noch glatt anfühlte. Sie setzte die Kerze auf dem Sims ab und hörte dem Sturm zu und den Stimmen und Bewegungen der anderen unten im Haus. Die Flamme tanzte, und sie strich mit der Hand über die Verzierung, breitete die Arme aus und ließ den Kopf sinken. Ihr Haar fiel ihr über den Hals und reichte fast bist zu den Knien.
»So etwas gibt es bald nicht mehr«, flüsterte sie.
Und sie wartete, dass ihre Großmutter etwas antwortete.
»So etwas gibt es bald nicht mehr«, sagte sie wieder und hob den Kopf. Wieder schaute sie die hübschen Schnitzereien an.
Alles verschwand. Die Geister aus dem French Quarter, hinter denen sie als Kind hergejagt war, beim Versteckspielen, wenn sie die Kutsche verfolgten und dem Mann in dem langen Mantel und dem unförmigen schwarzen Hut zuhörten, der seine Passagiere mit Gespenstergeschichten bei Laune hielt, in denen Piraten und gehenkte Verbrecher vorkamen oder Debütantinnen mit gebrochenen Herzen, die angeblich noch immer die düsteren Straßen heimsuchten. Der Geruch nach Weihrauch, der vom Studierzimmer ihrer Großmutter ausging, wenn sie den hoffnungsvollen Kunden, die ihr gegenübersaßen, Botschaften aus dem Jenseits übermittelte. Die Ahnungen von Geistern und Göttern und Engeln, die zwischen der Welt der Toten und der Lebenden existieren und den Menschen halfen oder sie in die Enge trieben, sie beobachteten und abwarteten, bis sich ein günstiger Moment zum Eingreifen ergab und sie vor einer schlimmen Katastrophe bewahrten. All das verschwand jetzt, weil die reale Welt sich unbarmherzig zeigte und all das zerstörte.
Sie wartete darauf, dass die Stimme ihrer Großmutter durch das Fenster zu ihr drang oder in einer Rauchwolke aus dem Kaminschacht auf sie zuwaberte. Die Stimme, die ihr als Kind die wunderbaren Dinge des Jenseits nahegebracht hatte. Sie wartete darauf, dass diese Stimme sanft ertönte, so zart wie die Flamme der Kerze, und ihr versicherte, dass diese Dinge für immer existierten. Egal, wie sehr die Welt sich in Aufruhr befand, egal, was die Menschen einander antaten, egal, was die Menschen ihr antaten, egal, was verloren ging und wie sehr man sich nach etwas sehnte, das man nicht bekam – es gab diese Dinge, die sich im Schatten versteckten und mit den Wolken zogen und mit der Sonne aufgingen und auf dich warteten. Auf dich achteten.
Mariposa horchte, aber die Stimme ihrer Großmutter war nicht zu hören. Sie schaute ihre runzeligen Fingerkuppen an und führte sie zum Mund.
Die Geister werden dich töten, dachte sie. Und dann sah sie vor sich das Bild Cohens, der ganz allein in diesem Haus lebte, überwältigt von seinen Erinnerungen, von denen er glaubte, dass sie ihn beschützten. Die Macht dessen, was er geliebt und verloren hatte, als er mit dem rücksichtslosen Egoismus der Lebenden konfrontiert wurde.
Sie hob die Kerze hoch und durchquerte das Zimmer. Als sie am Fenster vorbeiging, sprühte der Regen sie nass. Sie ging in eine Zimmerecke und blieb stehen. Sie lehnte sich gegen die Wand und ließ sich hinabgleiten, bis sie mit angezogenen Knien auf dem Boden saß. Mit beiden Händen hielt sie die Kerze fest. Sie ließ ihren Glauben an die anderen Dinge, die in anderen Welten existierten, von sich abfallen.
Jetzt ist es so weit, dachte sie. Und wartete auf Cohen.
33
Evan und Brisco gingen schließlich nach
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