Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
herumlaufen als unbedingt nötig.« Sie hielt das Baby in den Armen, lief in dem vom Feuer erleuchteten Zimmer umher, wiegte es und sang leise. Das Weinen wurde leiser.
»Ich finde, er sieht gar nicht gut aus«, sagte Nadine.
»Dass Babys spucken, ist normal«, sagte Kris.
»Ich weiß, dass sie spucken, aber er hört überhaupt nicht auf zu weinen. Es geht ihm richtig schlecht.«
»Trag ihn einfach weiter herum, das scheint ja zu helfen.«
Nadine ging weiter auf und ab und sprach mit dem Kleinen. Er weinte, wurde ruhiger, hörte zu und weinte wieder. Kris legte sich hin und schloss die Augen. Nadine strich dem Kleinen über den roten Kopf und versuchte, ihn dazu zu kriegen, dass er an ihrem Finger lutschte, aber er wollte nicht. Er wollte einfach nur schreien. Sie lief durch das Haus, von einem dunklen Zimmer zum nächsten, und spürte das Kind in ihren Händen. Während sie ihn im Rhythmus ihrer Schritte hin und her wiegte, kamen ihr neue Gedanken. Irgendwann würde der Kleine zu weinen aufhören, würde laufen lernen, würde losplappern, und seine kleinen Hände würden nach ihrer Hand fassen.
34
Die Hälfte ihres Urlaubs in Venedig war vorbei, und sie entschieden, dass es an der Zeit war, das zu tun, was man von Touristen erwartete. Bewaffnet mit Stadtführer, Karten und der Kamera verbrachten sie die nächsten drei Tage damit, bedeutende und weniger bedeutende Museen anzuschauen, die Unmenge von Kathedralen zu besichtigen, die Kriegsdenkmäler und sonstige Sehenswürdigkeiten. Sie kauften Andenken, Schlüsselanhänger, Poster und T-Shirts. Sie streiften über Märkte, und Elisa kaufte sich einen handgewebten Schal und eine Tischdecke. Cohen erstand einen Ledergürtel und kaufte einen silbernen Ring für Elisa, den er ihr auf dem Rückflug schenken wollte. Sie fuhren mit den Gondeln über die Kanäle, nur die wichtigsten, damit sie ihren Zeitplan einhalten konnten. Der Himmel war weiterhin bedeckt, und sie mussten ab und zu vor einem Regenschauer in ein Café flüchten, aber diese Schauer waren immer sehr kurz.
Nach drei Tagen hatten sie das Gefühl, alles gesehen zu haben, was sie sehen mussten, hatten zahlreiche Erinnerungsstücke gekauft und Hunderte von Fotos gemacht. Nun kehrten sie wieder zu ihrem anfänglichen Rhythmus zurück, gingen spät ins Bett und suchten die Stadt nach netten Orten zum Herumsitzen ab. Tranken guten Kaffee. Eine gute Flasche Wein. Aßen was Gutes. Das waren ihre Prioritäten.
Sie saßen an einem Tisch in der Nähe des Palazzo Soranzo. Elisa hatte ihre Füße auf einen leeren Stuhl gelegt und trug ein Pflaster auf der Wunde über ihrem Auge. Cohen lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Auf dem Tisch standen eine Karaffe Wasser und eine Karaffe Rotwein. Es war ein belebter Platz, und auf der anderen Seite konnten sie die Mitglieder eines Orchesters sehen, die ihre Instrumente aus schwarzen Koffern holten und die Noten aus schwarzen Aktenmappen und es sich auf ihren Sitzen bequem machten. Auf der Bühne stand ein Podest mit mehreren Stufen für einen Chor, und vor der Bühne und auf dem Platz sprangen viele Kinder in weißen Kitteln umher.
»Die sollten sich beeilen«, sage Cohen und schaute zum wolkigen Himmel.
»Ich hoffe, es bleibt trocken«, sagte Elisa. »Ich würde sie gern hören.«
Cohen griff nach der Weinkaraffe und schenkte ihnen nach.
Das Orchester wärmte sich auf. Die Geigen waren zu hören, das tiefe Dröhnen der Kesselpauken, die hohen Klarinettentöne, das Klimpern der Harfe, der nasale Klang der Oboen. Als die Instrumente ein lautes Signal gaben, rannten die Kinder zur Bühne. Eine Frau in einem ärmellosen roten Kleid fing sie ein, und ein Mann in einem grauen Anzug ging am Orchester vorbei und hielt drei Finger hoch, bemüht, dass alle Musiker es sahen.
»Das ist ja verrückt«, sagte Elisa. »Ich musste gerade an etwas denken, an das ich schon lange nicht mehr gedacht habe.«
Cohen griff nach dem Weinglas und fragte sie, an was sie sich erinnert hatte.
»An ein Buch, das ich im College gelesen habe. Tod in Venedig . Hast du es mal gelesen?«
»Wenn, dann hab ich es jedenfalls vergessen.«
»Dann hast du es nicht gelesen. Denn wenn man es gelesen hat, vergisst man es nicht. Vor allem, wo wir doch jetzt hier sind. Komisch, dass es mir gerade jetzt einfällt.«
»Und? Worum geht es? Um einen Doppelmord?«, fragte er.
Sie schaute über den Platz zu den Kindern hin. »Nein«, sagte sie zurückhaltend. »Es handelt von einem
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