Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
Mann, einem alten Mann. Er war Künstler oder vielleicht Schriftsteller. Egal, jedenfalls kommt er nach Venedig, um Urlaub zu machen, und er trifft diesen Jungen, diesen hübschen Jungen, und er verliebt sich in ihn. Es ist eine tragische Liebesgeschichte. Er ist völlig besessen von diesem Jungen.«
Cohen nippte an seinem Wein. »Perverser alter Sack«, sagte er.
»Aber darum geht es ja«, sagte Elisa, wandte sich von den Kindern ab und schaute Cohen an. »Er war kein perverser alter Sack. Zuerst denkt man das, aber wenn man genauer hinsieht, dann merkt man, dass er, wenn er über den Jungen nachdenkt, über ihn denkt wie über ein Kunstwerk oder eine Skulptur oder so was. Ich glaube, an einer Stelle vergleicht er den Jungen mit einer griechischen Statue. So fängt es an. Er ist Künstler und sieht in dem Jungen ein Kunstwerk. Aber als er dann anfängt, dem Jungen zu folgen, entgleitet es ihm. Die ganze Zeit über beobachtet er den Jungen. Folgt ihm ins Hotel und wenn er durch die Stadt geht, an den Strand. Überall hin. Ich glaube, einmal versucht er sogar, die Stadt zu verlassen, aber es gelingt ihm nicht.«
Die Klänge des Orchesters, wo die Musiker ihre Instrumente stimmen, wurden leiser, und die Kinder, die vorher durcheinandergerannt waren, standen jetzt in Reih und Glied hinter der Bühne und warteten brav. Die Frau im roten Kleid stieg auf die Bühne. Vorne am Bühnenrand standen vier Mikrophone. Sie ging von einem zum anderen und prüfte, ob sie eingeschaltete waren.
»Und was hat der Junge gemacht?«, fragte Cohen.
Elisa zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nichts. Er hat den Mann bemerkt, schien sich aber nicht für ihn zu interessieren. Er hat eine Gouvernante und einen Diener dabei, und sie bemerken den Mann, der ihnen folgt, aber niemand sagt etwas dazu oder tut etwas. Die ganze Sache ist sehr merkwürdig. Er hat sich in den Jungen verliebt, jedenfalls kam es mir so vor. Aber nicht auf irgendeine kranke sexuelle Art. Er liebt ihn einfach. Jedenfalls hab ich mir das so vorgestellt.«
Elisa nahm ihr Weinglas, aber sie trank nichts. Sie hob es an und schaute den Wein an, der sich darin bewegte. Dann stellte sie es auf den Tisch zurück.
»Und wie geht es aus?«, fragte Cohen.
Sie schüttelte den Kopf. »Der eigenartigste Teil war für mich, wie der alte Mann herausfindet, dass eine Seuche in Venedig ausgebrochen ist, aber alle es geheim halten, damit die Touristen nicht abreisen. Der Junge und seine Familie wohnen im selben Hotel wie er, und wie ich schon sagte, liebt er diesen Jungen. Aber als er das von der Seuche erfährt, warnt er die Familie nicht. Er tut nichts, um den Jungen zu schützen, obwohl er weiß, dass die Seuche bereits Menschenleben gekostet hat.«
»Reist der alte Mann irgendwann ab?«
»Nein. Er fährt auch nicht weg. Er wartet ab. Schließlich beginnt die Familie zu packen, und der alte Mann schaut weiter dem Jungen zu. Und dann stirbt er in einem Liegestuhl am Strand. Ich denke, er stirbt an dieser Seuche, aber das weiß man nicht genau.«
Cohen trank sein Glas aus und schenkte sich wieder etwas ein. Das Orchester war jetzt ganz leise, und dann begannen sie zu spielen.
»Ich frage mich, ob er ihn wirklich geliebt hat«, sagte Cohen. »Wenn es so gewesen wäre, dann hätte er doch etwas gesagt.«
Elisa hob ihr Glas, trank einen Schluck und überlegte.
»Und genau genommen hat er sich umgebracht«, sagte Cohen. »Richtig?«
Elisa stellte das Glas ab und goss sich den Rest aus der Karaffe ein. Das Orchesterstück hallte über den Platz und setzte sich als Echo in den Seitenstraßen und Gassen fort, zurückgeworfen von den tausend Jahre alten Gebäuden mit den Säulengängen.
»Ich glaube, er wollte für den Jungen sterben, und darüber hat er alles andere vergessen«, sagte sie. Sie schaute über den Platz und in den Himmel, als könnte sie die Musik dort sehen. »Ich glaube nicht, dass er den Unterschied zwischen Richtig und Falsch kannte. Nicht, weil es ihn nicht interessiert hätte, sondern weil er nichts mehr damit anfangen konnte.«
Cohen schaute sie an. Er bemerkte, wie ihr Herz und ihr Verstand arbeiteten. Das hatte er immer an ihr gemocht, und er hatte diesen Gesichtsausdruck schon oft bei ihr gesehen, wenn sie am Strand saßen und aufs Meer hinausblickten.
»Klingt wie eine interessante Geschichte«, sagte er.
Das Orchester begann zu spielen, und die Kinder in den weißen Hemden traten auf die Bühne und stiegen auf das Podest. Die Frau im roten Kleid stand
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