Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
nickte.
Cohen ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Er schaute nach draußen in den Regen und zu den Leuten, die rings um den Platz standen. Die Warnung des Wachpostens an der Linie fiel ihm ein, der von einem Monstersturm gesprochen hatte. Charlie hatte sich ähnlich geäußert. Vielleicht haben wir das Schlimmste ja noch vor uns.
»Woran denkst du?«, fragte Mariposa.
Cohen zog den Vorhang zu und setzte sich auf den Stuhl vor dem Fenster.
»Ich dachte daran, dass wir im Trocknen sind und in Sicherheit. Aber wir werden nicht lange bleiben.«
Mariposa ging ins Badezimmer und schloss die Tür zum angrenzenden Zimmer. Dann kam sie zurück und begann, sich auszuziehen.
»Und woran denkst du?«, fragte er.
Sie warf die schmutzigen, nassen Kleider auf einen Haufen und sagte: »Ich denke, dass ich mich waschen werde. Und dann, denke ich, werde ich in einem Bett schlafen.«
In der ersten Nacht träumte er von Kindern. Er träumte von Babys, die auf dem Rücken lagen und mit offenen Mündern ganz entspannt und unschuldig schliefen. Er träumte von Kleinkindern, die laufen lernten, sich wackelig und unsicher voranbewegten, gegen Sofatische und Türrahmen stießen, auf den Hintern fielen, wieder aufstanden und weitertapsten. Er träumte von großen Kindern, die auf Pferden ritten und Fangen spielten und angeln gingen. Und er träumte von einem Mädchen, dem er das Fahrradfahren ohne Sturzräder beibringen wollte, und spürte, wie sie ihm vertraute, dass er sie nicht umfallen ließ. Die Kinder in seinen Träumen waren Jungen und Mädchen, manchmal blond, manchmal dunkelhaarig, manchmal laut und stürmisch, manchmal still und sanft. Die Kinder in seinen Träumen waren nie nass, sie froren nie, und sie warfen Schatten, weil die Sonne schien. Mehrmals wachte er auf, und jedes Mal beeilte er sich, weiterzuschlafen, um wieder bei den Kleinen zu sein, die durch seine Gedanken hüpften.
Weil er so unruhig war, konnte sie nicht schlafen. Sie fing an, sich Gedanken zu machen, und konnte erst recht nicht mehr einschlafen. Sie stand auf, zog Jeans und Sweatshirt an und ging ans Fenster. Sie wusste nicht, wie spät es war, aber es war noch mitten in der Nacht. Es regnete heftig, und sie konnte nur die verwaschenen Umrisse von Gestalten unter den Vordächern erkennen. Einige standen, andere hatten sich ausgestreckt, die rötlichen Spitzen ihrer Zigaretten leuchteten im Dunkeln auf. Sie zog den Vorhang zu, schlich leise zur Tür, zog sie auf und ging durchs Treppenhaus hinunter ins Café.
Im Gastraum war es dunkel. Die Stühle standen auf den Tischen, und die Lichter waren aus. Nur im Vorratsraum war noch Licht, und der Schein fiel durch die quadratischen Fenster der Schwingtür. Auf dem Tresen standen Kaffeebecher und Plastikgläser ordentlich aufgereiht, Pfannenwender und Wurstzangen lagen in einer silbrig schimmernden Schale auf dem Grill. Die Fenster waren beschlagen, im Café war es sehr feucht.
Mariposa ging zu einer Nische in der dunkelsten Ecke, setzte sich und schaute zum Fenster.
Die unklare Situation an diesem Ort hatte sie verunsichert. Sie hatte gehofft, dass sie in dieser Nacht tief und fest schlafen würde, damit sich ihr Körper und ihr Verstand ausruhen konnten. Dass sie sich entspannte, weil sie es geschafft hatten, zu überleben. Dass diese Nacht eine Brücke in ein neues Leben wäre. Aber das war nicht der Fall. Zwar verbrachte sie die Nacht zwischen vier Wänden, hatte ein Bett und ein warmes Essen von einem richtigen Teller mit richtigem Besteck gegessen, aber es sah nicht so aus, als wäre alles nach dieser Nacht zu Ende. Es war nicht die Nacht geworden, die sie erwartet hatte, und es kam ihr vor wie eine Niederlage, als sie so dasaß und die leere Bank auf der anderen Seite des Tischs anstarrte.
Irgendwo habe ich Verwandte. Aber jetzt fragte sie sich, ob das wirklich stimmte. Wie weit müssen wir noch fahren, bis die Welt nicht mehr so aussieht wie hier?
Der Regen, der Regen, der Regen. Das Vordach leckte, und die Leute, die draußen bleiben mussten, liefen herum wie vom Regen versklavte, willenlose Geschöpfe. Warum gingen sie nicht irgendwo rein? Warum krochen sie nicht irgendwo unter? Aber sie wusste die Antworten auf diese Fragen. Sie wusste ja selbst, wie es war, wenn man niemanden und nichts mehr hatte. Und sie wusste, dass es eine feine Trennungslinie gab zwischen denen, die im Café saßen, und denen, die draußen standen. Sie musste an Cohen denken, der sich oben im Bett hin und her
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