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Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
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darum.«
    Joe schob seine Hände in die Taschen und stellte sich breitbeinig hin. »Letzte Nacht war wirklich ziemlich heftig. Die Stürme werden schon seit Längerem immer schlimmer.« Er wartete auf eine Antwort, aber Aggie schwieg. »Mir kommt’s vor, als würden sie jedes Mal noch übler, findest du nicht?«
    »Ich fühl da keinen großen Unterschied.«
    »Es fühlt sich nicht so an, es ist so.«
    Aggie musterte ihn eingehend: »Und?«
    »Und deshalb frage ich mich, ob wir einen Plan haben für den Fall, dass es zu heftig wird.«
    »Es wird nicht zu heftig.«
    »Das kannst du doch gar nicht wissen. Ich hab letzte Nacht beinahe ins Bett geschissen.«
    »Dann musst du eben lernen, dich zusammenzureißen«, sagte Aggie. »Wir leben nun mal hier.«
    Joe trat von einem Bein aufs andere. »Wenn du meinst.«
    »Du bist fertig mit den Nerven. Hau einfach ab.«
    Joe nickte. »Hast du Mariposa und den Jungen eingeschlossen?«
    »Ja.«
    »Dabei solltest du es auch belassen.«
    »Warum das?«, fragte Aggie etwas herablassend.
    »Die haben beide diesen Blick gehabt. Die haben Mumm.«
    »Der Junge ist schlau genug. Er weiß, was ihm blüht. Außerdem hört er aufmerksam zu, wenn wir vorlesen.«
    »Er hört zu, aber er hat diesen Blick. Und sie hat ihn auch.«
    »Sie ist …« Aggie hielt inne und dachte an sie, an ihre braune Haut, ihr welliges, schwarzes Haar und wie sie ihn manchmal ansah. »Sie ist schon okay.« Er warf die Zigarette weg. »Schau dich mal um.«
    Joe nickte, ging zurück und stieg wieder in seinen Wohnwagen. Er machte eine Dose Bier auf und trank sie hastig aus. Als er fertig war, rülpste er laut. Dann nahm er ein Handtuch vom Bett und wischte sich damit übers Gesicht, zog ein Paar Arbeitshandschuhe, eine schwarze Strickmütze und eine Jacke mit Kapuze an. Bevor er nach draußen ging, nahm er seine neue, abgesägte Schrotflinte, griff sich ein paar Patronen und steckte sie in die Jackentasche. Er verließ den Trailer und lief durch den rötlichen Matsch. Er sah, wie sie hinter den Vorhängen hinausspähten, wie sie es jeden Morgen taten. Ihre Türen waren von außen verschlossen. Ihre blassen Gesichter starrten durch die schmutzigen Fensterscheiben. Mit eingesunkenen Augen schauten sie ihn an und fragten sich, ob er jetzt seine Runde machte und die Türen aufschloss. Fragten sich, ob es ihnen erlaubt wurde, nach draußen zu gehen. Fragten sich, ob dies einer der Tage sein würde, an denen man ihnen erlaubte, Menschen zu sein. Fragten sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn der Sturm sie weggefegt hätte.

14
    Cohen sah immer mehr Dinge, die gar nicht da waren, während er weiterging. Der Hunger und das Fieber und die Erschöpfung. Trugbilder huschten aus Gräben hervor und wieder zurück, lauerten hinter Bäumen, riefen nach ihm in dumpfem Singsang. Er zitterte jetzt die ganze Zeit. Alle hundert Meter hielt er an, kniete sich hin oder setzte sich. Überall stand das Wasser. Manchmal stützte er sich an einem Baumstamm ab, um nicht umzukippen. Er trottete immer weiter. Schulter und Rücken schmerzten, aber er ging weiter, kämpfte gegen die Trugbilder in seinem Kopf und versuchte, den Weg zur Kapelle nicht zu verfehlen. Versuchte, den Regen zu ignorieren, und dachte an das Essen und das Wasser, das er an seinem Ziel vorfinden würde. Er lief weiter und rief laut aus: Gott, ich bitte dich, sei dort. Bitte, lieber Gott, sei dort. Ob die kleine Kirche noch stand, war ungewiss, aber er glaubte daran. Er hatte keine andere Wahl.
    Der Hund war mit ihm losgegangen, lief voraus, drehte sich um und schaute ihn ungeduldig an, weil Cohen nur langsam vorankam. Ab und zu machte der Hund sich davon, verschwand im hohen Gras oder im Gebüsch, kam wieder zurück und ging mit ihm zusammen weiter. Sie stießen auf frisch überflutete Straßen und Brücken und mussten mehrmals Umwege einschlagen. Trotzdem behielt er die Richtung bei und spürte, wie er sich der Straße näherte, die zur Kirche führte. Er kämpfte sich weiter voran, fiebrig und erschöpft, aber die bekannte Umgebung machte ihm Mut. Knapp fünfzig Meter von der Landstraße entfernt, die zur Kapelle führte, setzte er sich mitten auf der Straße hin. Dann streckte er sich aus. Er legte seinen nassen Arm über seinen nassen Kopf und schloss die Augen. Nur das konstante Trommeln des Regens war zu hören, aber als er so dalag, schien es ihn zu beruhigen. Die Ruhe des Vergessenen.
    Und dann hörte er es.
    Er setzte sich auf. Horchte. War sich nicht sicher, ob

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