Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
stimmt hier nicht.
Ava blieb in der Tür stehen, stemmte die Hände in die Hüften und sah ratlos aus. Aggie ging zu ihr hin. Im Wohnwagen schrie Lorna wieder laut auf. Und noch mal und noch mal. Alle sahen einander an.
»Irgendwas stimmt nicht«, wiederholte Ava. »Ich kann es sehen, aber es bewegt sich nicht. Und ich weiß nicht, ob es richtig liegt oder nicht.«
»Dann muss man halt einen Schnitt machen«, sagte Aggie.
»Das kannst du machen. Ich schneide sie nicht.«
»Musst du aber.«
»Oder du.«
»Sie stirbt, wenn du es nicht tust«, sagte Aggie, ohne dass man ihm ansehen konnte, ob er es wusste oder nicht. Ihren Schreien nach zu urteilen, musste es wohl stimmen.
»Sie stirbt wahrscheinlich sowieso«, sagte Ava. »Wenn ich sie schneide, wie soll ich sie dann wieder zusammenkriegen? In der Tasche, da ist nichts, das irgendwie nützlich dafür aussieht.« Sie trug ihre Armeejacke nicht mehr und hatte die Ärmel hochgekrempelt. An ihren Händen war Blut.
»Du musst das Baby rausholen«, sagte Aggie. »Er ist der Anfang.«
»Ich weiß, was er ist. Oder sie. Oder was es sonst sein soll«, sagte Ava. »Ich bin hier schon genauso lange wie du, falls du dich erinnerst.«
»Der Anfang von was?«, fragte Cohen, aber sie ignorierten ihn oder hatten es nicht gehört.
Lorna schrie erneut auf. Und dann hörte sie auf. Sie warteten, ob sie wieder anfing, aber eine Minute verging. Ava rannte in den Wohnwagen zurück.
Aggie trat einen Schritt zurück und blieb neben der Treppe stehen. Der Regen prasselte auf die beiden Männer. Sie beugten sich vor und warfen sich Blicke zu.
»Ich hab da drin ein bisschen Kaffee«, sagte Aggie und deutete mit dem Kopf auf den anderen Wohnwagen, aber Cohen antwortete nicht. Er sehnte sich nach einem Schluck Wasser, aber er wollte diesen Mann nicht um einen Gefallen bitten. Bevor er sich entscheiden konnte, was er tun wollte, ging das Schreien wieder los, und diesmal hörte es nicht mehr auf. Das Schreien und die Rufe der Frauen dazwischen, die mitten in diesem Sturm laut riefen, sie solle durchhalten, und sich gegenseitig Anweisungen gaben. Es war ein einziges chaotisches Durcheinander, ohne irgendwelchen Nutzen, es brachte alles nichts, sondern heizte nur die allgemeine Hysterie an. Cohen schloss die Augen. Biss die Zähne zusammen. Wünschte sich nichts sehnlicher, als woanders zu sein.
Aggie stand mit ausdruckslosem Gesicht da.
Cohen riss die Augen auf und brüllte ihn an: »Bist du auch noch stolz darauf?«
Aggie schrie zurück: »Ich hätte dich letzte Nacht besser umgenietet. Oder ich tu’s jetzt.«
In dem Lärm verstand Cohen nicht ganz, was er gesagt hatte, und forderte ihn auf, es zu wiederholen.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, sagte Aggie.
»Nein, hab ich nicht«, widersprach Cohen. »Sag’s noch mal.«
»Ich hab gesagt, dass ich dich retten werde. Du bist hierhergeschickt worden, das weiß ich. Genau wie wir anderen auch.«
»Niemand ist hierhergeschickt worden.«
»Das verstehst du nicht.«
»Ich verstehe jedenfalls, was ich sehe.«
»Das ist nur das, was du jetzt siehst.«
»Später sieht’s dann anders aus?«
Aggie nickte. Er grinste Cohen an und sah aus wie einer, der sich vollkommen frei fühlte. Wie jemand, der die Macht des Glaubens kennt, in einer Welt, wo niemand in der Position ist, darüber zu richten.
Die Schreie veränderten sich. Sie klangen jetzt nicht mehr schmerzerfüllt, sondern qualvoll. Grotesk. Cohen schaute Aggie an und fragte sich, was er an diesem Ort überhaupt verloren hatte und was er mit diesem Mann da anfangen sollte. Er wusste nicht, wer dieser Kerl eigentlich war, was er getan hatte oder wozu er imstande war, aber er wusste ganz bestimmt, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Eingeschlossene Frauen und ein Mann, der die Schlüssel hatte. Und in seiner Hosentasche steckte die Bibel. Trug den Mantel eines Toten. Hatte die Macht, andere loszuschicken, um Überfälle zu machen und zu stehlen. In seinem Blick stand geschrieben, dass er niemals eine Tat bereute.
Die Schreie der Frau wurden schriller und bettelnder, und es klang, als gäbe es in dieser Welt kein Erbarmen mehr. Cohen stand da und hörte zu, schaute den Mann an, dessen Gesichtsausdruck völlig gleichgültig blieb, während die spitzen Schreie der Frau das Toben des Sturms übertönten. Cohen dachte an Elisa und wie es mit ihr geworden wäre, wenn sie einen ganz runden Bauch gehabt hätte, wenn das Kind einen Namen bekommen hätte und das Zimmer gelb, rosa
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