Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
Vom Netzwerk:
einige Menschen in Ordnung sind und andere nicht.«
    »Na gut, das stimmt doch. Einige Leute sind nicht in Ordnung. Niemand hier unten ist in Ordnung. Außer mir. Mir ging’s gut, bis vor knapp einer Woche.«
    »Du bist auch nicht in Ordnung«, sagte Aggie und schaute Cohen an. »Du hast es geglaubt, aber es stimmt nicht. Wie soll mit dir alles in Ordnung sein? Du bist allein. Du hast niemanden zum Reden. Niemanden zum Beten. Betest du überhaupt?«
    Cohen nahm noch einen Schluck und ignorierte die Frage.
    »Die Linie sollte etwas wegnehmen, aber es kam anders. Die Linie hat etwas gegeben. Sie gibt es denen, die glauben und die mehr wollen als nur einen Ort, wo sie nach eigenen Vorstellungen leben können. Mit ihresgleichen. Die dort oben werden hinweggefegt. Nicht die hier unten.«
    Er sprach wie jemand, der lange über das nachgedacht hatte, was er nun sagte. Tatsächlich sprach er wie jemand, der es eingeübt hatte. Er klang selbstsicher, und in seinem Gesicht und seinen Augen war Gewissheit zu erkennen.
    »Und wer sind also die da drin?«, fragte Cohen erneut.
    Aggie hob den Arm und streckte die Hand aus, als wollte er etwas greifen, dann bewegte er die Hand in Zeitlupe. »Sie sind wie ich. Wie wir. Sie gehören hierher. Ich kümmere mich um sie. Ich bin für sie verantwortlich. Sie sind für mich und ich bin für sie und wir sind für dich. Du bist zu uns gekommen, und wir werden dir einen Platz unter uns frei machen.«
    »Ich bin zu niemandem gekommen, und ich brauch auch keinen Platz. Ich will das Mädchen und ein bisschen Benzin.«
    »Du brauchst einen Platz. Wir alle brauchen einen Platz.«
    »Warum sind sie eingeschlossen?«
    Aggie senkte die Hand, stand auf und ging einmal um das Feuer herum. Dann setzte er sich wieder hin. Eine Weile schwiegen sie. Cohen spürte den pochenden Schmerz in seinem Bein. Die Blutung hörte allmählich auf. Sie sahen zu, wie das Feuer herabbrannte. Es bringt nichts mehr, jetzt weiterzureden, dachte Cohen. Nicht jetzt. Auch morgen nicht. Mit Reden würde er nicht das bekommen, was er wollte. Und Reden würde ihm auch nicht dabei helfen, hier wegzukommen.
    Der Whiskey tat seine Wirkung, und Cohen fühlte sich leicht und taub. Um sie herum war die Nacht tiefschwarz wie auf einem Gemälde.
    Aber dann wurde die Stille von einem Klopfen unterbrochen. Offenbar hatte nur Cohen es gehört, denn Aggie bewegte sich nicht. Das Klopfen ging weiter. Ein geduldiges, fortgesetztes Klopfen. Es kam aus dem Wohnwagen, der ihnen am nächsten war. Cohen schaute dorthin und bemerkte das runde Licht einer Taschenlampe im Fenster. Das Klopfen ging weiter und verwandelte sich in ein lautes Pochen, dann waren die Stimmen von zwei Frauen zu hören, die laut etwas riefen. »Aggie, mach auf. Aggie, komm her. Sie ist so weit. Es geht los. Mach auf.«
    Aggie stand auf, griff in seine Tasche und holte einen Schlüsselring hervor. Er drehte sich so, dass Cohen den Revolver in seiner Hosentasche sehen konnte. Dann ging er zu den Gewehren, nahm sie, öffnete seine Tür, legte sie rein, schloss die Tür wieder und ging dann dorthin, wo die Stimmen herkamen.
    »Geht zurück«, rief er.
    »Mach die Tür auf. Sie ist so weit«, rief eine Frau zurück.
    »Ich sagte, geht zurück.«
    Hinter der Tür war ein schmerzvolles Stöhnen zu hören.
    Cohen richtete sich auf und blieb mit dem Rücken zum Feuer stehen. Aggie schloss die Tür auf und öffnete sie. Eine Frau richtete die Taschenlampe auf eine andere, die heraustrat. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie drückte beide Hände gegen ihren kugelrunden Bauch. Sie trug zwei Mäntel, einen mit Kapuze, die sie über den Kopf gezogen hatte. Sie stieg vorsichtig aus dem Wohnwagen, als fürchtete sie, der Boden unter ihr könnte nachgeben. Hinter ihr kam die Frau mit der Taschenlampe aus dem Wagen und stützte die schwangere Frau am Arm.
    Cohen konnte kaum glauben, was er hier sah, aber er wusste ja inzwischen, dass man in dieser Gegend alles glauben sollte. Oder auch nicht alles glauben. Irgendwo in der Mitte seiner Gedanken und mitten in dieser dunklen Nacht schienen die Klagelaute der Frau perfekt zu passen. Er sah zu, wie sie mit durchgedrücktem Rücken und kleinen Schritten voranging, sah ihren gequälten Gesichtsausdruck und vergaß für einen Augenblick die Schmerzen in seinem Bein, als ihm klar wurde, welche Art von Schmerzen sie erwarteten. Er tastete nach dem Messer unter seiner Jacke. Es steckte in dem Etui, dass er ganz eng an den Körper geschnallt hatte. Dann

Weitere Kostenlose Bücher