Nach der Hölle links (German Edition)
wenigen Begegnungen der Familie zurecht – oder zumindest redete er sich das ein. Aber dann wieder gab es Augenblicke, in denen er den Verstand zu verlieren glaubte. Momente, in denen er seinen Kopf an die Wand knallen wollte, damit es darin nicht mehr wummerte und pochte. Oft lösten Kleinigkeiten wilde Wut, Verzweiflung und Angst in Andreas aus. Noch öfter wusste er nicht, wer von ihnen verrückt war. Er, weil er das Verhalten der Eltern mittlerweile eigenartig fand, sein Therapeut, weil er Andreas klarmachen wollte, dass das Ehepaar Winterfeld selbst schlimme Probleme hatte oder seine Eltern, die fast alles, was Therapeut oder Arzt sagten, für Humbug hielten. Das ewige Tauziehen zwischen Verantwortung und dem Wunsch nach Eigenständigkeit, Fortschritten und mangelnder Anerkennung, Schuld und Vorwürfen zermürbte Andreas. Und bei jeder Begegnung mit seinen Eltern spürte er deutlicher, wie enttäuscht er von ihnen war.
An seinen 23. Geburtstag vor zwei Wochen erinnerte Andreas sich zum Beispiel gar nicht gern. Sie hatten ihn nicht vergessen. Dabei wäre es ihm sogar lieber gewesen, wenn sie ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätten.
Richard von Winterfeld hatte ihm eine E-mail mit einem hechelnden Golden Retriever geschickt und Geld auf Andreas’ Girokonto überwiesen. Ein Konto, das mit den Erträgen der Aktienfonds gefüllt wurde, die sein Großvater ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag überschrieben hatte. Geld war das Letzte, worum er sich Sorgen machen musste. Seine laufenden Kosten waren zu vernachlässigen, denn seine Eltern hatten ihm die Wohnung selbstverständlich gekauft. Die von Winterfelds zahlten keine Miete, wenn sie selbst Eigentümer sein konnten. Überhaupt waren seine Eltern nach wie vor mehr als willig, Andreas alles zu kaufen, was er sich wünschte. Dafür gab es auch abgesehen von ihrem schlechten Gewissen gute Gründe.
Lange Zeit hatte Andreas nicht gewusst, wie die Rechtsverhältnisse im Winterfeld-Konzern aussahen. Heute war er besser informiert, wusste, dass er auf einem schrägen, juristischen Wege bereits Teilhaber war und die Firma ohne seine ausdrückliche Zustimmung nicht verkauft werden konnte. Das hatte sein Großvater sichergestellt, bevor er sich aus dem täglichen Arbeitsleben zurückzog. Im Grunde wartete der Konzern nur auf Andreas’ Bereitschaft, nach ihm zu greifen. Und wer das Unternehmen kontrollierte, besaß die Macht über die Finanzen. Ja, seine Eltern wussten, warum sie großzügig waren.
Margarete von Winterfeld hatte darauf verzichtet, Andreas Geld zu überweisen, das er nicht brauchen konnte. Stattdessen hatte sie ihm scheu einen hohen Gutschein eines renommierten Reisebüros überreicht. Damit er mal aus dem Haus käme. Das wäre doch sicherlich in seinem Sinne. Angesichts der von türkisblauen Ranken umrahmten Geschenkkarte wären Andreas beinahe die Tränen gekommen. Da kämpfte er wie ein Löwe, um den Alltag zu bewältigen, wusste abends kaum, wie er ins Bett kriechen sollte, und seine Mutter glaubte, er könne verreisen. Die Einladung zum Essen in einem teuren, französischen Restaurant hatte er ebenfalls ausschlagen müssen. Er war zu aufgewühlt gewesen.
Von seinem Großvater war Andreas ein weiteres Geldgeschenk ins Haus geflattert. Allerdings hatte der alte von Winterfeld sich die Mühe gemacht, zusätzlich ein paar seltene Buchbände über ägyptische Ausgrabungen zu besorgen. Diese Fotobände bedeuteten Andreas mehr als alles Geld zusammen. Sie zeigten ihm, dass sein Großvater sich an ein lang zurückliegendes Gespräch erinnerte.
Damals in der Klinik … da war Gustav von Winterfeld der erste gewesen, der ihn besuchen kam. All die Schrecken … und das fremde Zimmer … die Panik.
Etwas krampfte sich schmerzhaft in Andreas’ Brust zusammen und trieb ihm die Feuchtigkeit in die Augen. Nicht viel später brachen Tränen unter dem Rand der Sonnenbrille hervor und rannen über sein Gesicht. Er wischte sie nicht ab und versuchte nicht, seinen Gefühlen Einhalt zu gebieten.
Andreas hatte in den vergangenen Jahren genug geweint, um das Hamburger Hafenbecken zu füllen. Anfangs war es ihm peinlich gewesen, dass er sich bei jeder Gelegenheit in einen menschlichen Springbrunnen verwandelte. Viel gutes Zureden seitens seines Therapeuten und des Klinikpersonals sowie die Erfahrung, dass es half, sich richtig auszuweinen, hatten ihn eines Besseren belehrt.
Tränen waren das Wundsekret der Seele. Hielt man sie mit Gewalt zurück, vergifteten sie
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