Nach der Hölle links (German Edition)
den Geist und streuten Krankheit in den Kosmos des Selbst. Zu weinen bedeutete, sich von einer Last zu befreien. Der Tränenfluss fungierte als Ventil. Und manche Menschen brauchten mehr Ventile als andere.
Meistens wollte er nicht zurückdenken. Nicht an seine Kindheit, Jugend und die vielen Augenblicke, in denen er sich zurückgestoßen gefühlt hatte. Auch an die Schrecken der Therapie erinnerte er sich nicht gern. Mittlerweile wusste er, dass dieses intensive Beschäftigen mit der Vergangenheit notwendig war. Erst, wenn alle Ursachen ergründet, alle Auslöser gefunden waren, würde er frei sein. Leichter wurde sein Leben dadurch nicht.
Trotz der Sonneneinstrahlung erschauerte Andreas unwillkürlich. Sein Alltag verlief in strengen Bahnen. Manchmal glaubte er, an der Autobahnplanke des Therapieplans zu zerschellen.
Von Montag bis Freitag arbeitete er vier Stunden im Tierheim. Nicht nur, damit er sich langsam an ein geregeltes Arbeitsleben herantastete, sondern auch, um aus dem Haus zu kommen. Jeden Tag musste er sich zwei Mal mit Bussen und Bahnen herumärgern, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Am Dienstag und Donnerstag hatte er Gesprächstherapie, in der seine Seele seziert wurde. Außerdem achtete Jochen Köninger streng darauf, dass Andreas sich an den Verhaltensplan hielt, den er nach dem Aufenthalt in Münster bekommen hatte.
Schocktherapie. Nicht im eigentlichen Wortsinn – keine Elektroschocks oder ähnlich martialische Methoden –, sondern eine Form von Konfrontation, die kein Ausweichen erlaubte. Andreas durchlebte heute noch Albträume von den Situationen, in die man ihn damals gezwungen hatte.
Um das Erfolgsniveau zu halten, musste er trainieren. Neben dem Praktikum und den damit verbundenen Fahrten sollte er selbst einkaufen, damit er Supermärkte und andere Geschäfte tatsächlich betrat. Er war angehalten, stets die größten Läden zu wählen; keinesfalls kleine Fachgeschäfte, in denen man schnell wieder an der Tür war. Außerdem hatte er alle Aufgaben des täglichen Lebens selbst zu meistern. Virtuelle Rathäuser oder Waren im Internet zu bestellen, statt sie im realen Geschäft abzuholen, war tabu.
Einmal in der Woche stand Sport in der Öffentlichkeit auf dem Stundenplan – schwimmen gehen, Fitnessstudio –, einmal musste er zum Essen ins Restaurant oder ins Kino gehen, einmal eine abendliche Aktivität hinter sich bringen. Meistens landete er in der Kneipe gegenüber, trank pflichtschuldig zwei Bier und war froh, wenn er wieder verschwinden konnte. Die Therapie bedeutete viel Stress für jemanden, der vor nicht allzu langer Zeit nicht in der Lage gewesen war, im Garten der Eltern schwimmen zu gehen.
Über alle Erfolge und Misserfolge musste Andreas Buch führen. Und ganz nebenbei, wenn er sich nicht dafür rechtfertigte, warum er schon wieder in das kleine Programmkino gegangen war, statt in das gewaltige Cinemaxx-Center, musste er lernen, die Scherben seines Selbst zu einem wasserdichten Krug zusammenzusetzen. Er wusste nicht, welcher Vorgang schmerzhafter und anstrengender war. Wie damals, als …
Mann, lass es gut sein, ermahnte Andreas sich selbst, bevor er in finstere Erinnerungen abdriftete. Seine Tränen waren mittlerweile versiegt.
Missmutig verzog er den Mund. Er würde alles tun, um eine Wiederholung der Konfrontationstherapie zu verhindern. Zu sehr hatte er damals gelitten. In der fremden Stadt, die sie zum Trainingsparcours ernannten. Das hotelartige Gebäude, in dem die Patienten darauf warteten, ihren tiefsten Ängsten zu begegnen. Kein Klinikflair, nicht wie die Psychiatrie in Hamburg. Stattdessen hübsche Queensize-Betten, eine Dusche in jedem Zimmer, Minibar und Fernseher.
Andreas hatte es gehasst. Nicht, weil man sich keine Mühe mit ihm gab oder er das Gefühl hatte, falsch aufgehoben zu sein. Nein, er hatte nur gehasst, mit ansehen zu müssen, dass bei einigen Patienten die Angehörigen blieben. Ehemänner und -frauen, die ihren Partnern beistanden und diese abends empfingen, wenn sie auf dem Zahnfleisch in ihr Zimmer krochen. Andreas war allein gewesen.
Die Erinnerungen ließen seine Hände zittern. Fahrig rückte er die Sonnenbrille zurecht und schob die dunklen Bilder endgültig von sich. Er stieß sich mit dem Fuß am Boden ab, sodass die Hängematte zu schwingen begann.
Ein freier Tag ohne Aufgaben und Stress lag vor ihm. Nur Sonne und über ihm der Himmel. Langsam beruhigte er sich, wurde träge. Eine Taube verirrte sich zu ihm auf die
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