Nach der Hölle links (German Edition)
sehr hatte er es vermisst, auf diese Weise berührt zu werden. Hände strichen ihm über den Hinterkopf, zogen ihn näher. So viel ruhige Nähe, so viel liebevolle Zuwendung, so viel Vertrautheit.
Es dauerte eine Weile, bis Andreas bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Bis er realisierte, dass Saschas Hände die seinen hielten und unmöglich gleichzeitig seinen Kopf, seinen Rücken und seine Beine erreichen konnten.
Er sah an seinem Körper entlang und würgte. Die Tentakel krochen von allen Seiten auf ihn zu. Sie berührten ihn mit schnabelartigen Mäulern. Attackierten seine Kleidung, bereiteten sich darauf vor, sein Fleisch zu verschlingen.
Panisch sprang er zurück und prallte gegen einen Widerstand. Eine Wand aus Schlangenarmen. Es zischte. Muskulöse Leiber wanden sich um seine Arme und zogen ihn nach hinten.
»Hilf mir«, rief er. »Sascha, hilf mir doch.«
Sein Freund drehte sich zu ihm um. Sein Äußeres flackerte, als wolle es die Form wechseln. Mal erkannte Andreas Sascha, mal stand ihm ein Wesen gegenüber, das selbst in Albträumen keinen Platz haben konnte. Eine Kreatur ohne Gesicht. Versehen mit Fängen, Klauen und nicht zuletzt den Tentakeln, die nach ihm griffen. Von der schuppigen Haut tropften Sekrete, die den Boden zu ihren Füßen verdampften.
»Was ist denn?«, lachte das Wesen hämisch und sträubte die Hautfetzen über seinem Mund. Es sah aus, als wäre es dem Cthulhu-Mythos entsprungen. »Ich helfe dir doch. Ich helfe dir, zu Ende zu bringen, wozu du zu feige bist. Wolltest du nicht immer eins mit mir sein?«
Etwas Schleimiges kroch in Andreas ’ Mund und schob sich tief in seinen Hals. Es brach ihm den Kiefer. Dann begannen die Greifarme, sich zu winden und sich in seine Haut zu schlagen. Bauch, Hüfte, Gliedmaßen. Überall fraßen sie sich durch seine Kleidung, bissen sich fest und begannen zu zerren. Andreas kämpfte gegen sie an, aber es waren zu viele. Sein Schicksal war besiegelt. Sein Geist wusste darum, der Körper, der einen eigenen Überlebenswillen besaß, weigerte sich, aufzugeben. Zu schrecklich war, was ihn erwartete. Man würde ihn nicht nur vierteilen, sondern seine Essenz in Stücke reißen. Bis nichts mehr von ihm übrig war.
Andreas wurde von seinen eigenen Schreien geweckt. Während er im Traum gegen den Tentakel in seinem Mund anbrüllte, kamen die Stimmbänder in der Realität in Bewegung und retteten ihn.
Er rang nach Atem. Rücken und Bauch waren nass, das Kissen verschwunden. Er hatte sich den Kopf an einer der Metallstreben des Bettes angeschlagen. Das Laken unter ihm lag in feuchten Falten und scheuerte. Selbst auf seinem Unterleib stand Feuchtigkeit. Sie benetzte seine Schambehaarung und ließ sie auf der Haut kleben. Andreas roch seinen Angstschweiß und fühlte sich unendlich schmutzig.
Schlimmer als die körperlichen Unpässlichkeiten war das Zittern verbliebener Todesangst. Ein Schauer dankbarer Hysterie weichte sie auf, aber zur Ruhe kam sie nicht. Sie bohrte sich in seine Eingeweide. Zerrte an ihm, wie die Tentakel es zuvor getan hatten.
»Keine Horrorfilme vor dem Einschlafen mehr«, bewegten sich seine Lippen, ohne zu sprechen.
Etwas Reines war besudelt worden. Und er hatte nicht die Kraft, zur Gänze aufzuwachen, um dem Traum die Kraft zu nehmen. Stattdessen stürzte er ein drittes Mal. Er fiel ohne Vorspiel, das ihn auf die falsche Fährte lockte, direkt in die Angst hinein.
Der Zug fuhr ohne ihn ab. Andreas rannte.
Die schwarz lackierte Dampflok pfiff warnend und spuckte Qualm aus, der als Ascheregen auf ihn niederging. Er rempelte sich durch die wartenden Reisenden, sprang über ihre Koffer. Ein Hund mit einer Strickjacke kläffte ihm aufgebracht hinterher.
Laufen. Schneller.
Neben dem Fahrkartenautomaten – außer Betrieb – stand der Leierkastenmann mit der Ratte auf der Schulter. Er spielte eine verquere Version von Europes »It ’ s the final countdown«. Der Schwanz der Ratte schlug im Takt dazu. Auf ihrem langen Schädel saß eine winzige Narrenkappe, deren Schellen wie Kirchenglocken klangen.
Andreas bluteten die Ohren.
Sascha stand auf der Plattform des Speisewagens. Sein Fuß tippte ungeduldig. Der hellbraune, altmodisch geschnittene Blazer über den Jogginghosen passte nicht zu ihm. Von der Melone auf seinem Kopf ganz zu schweigen. Seit wann trug Sascha Schnurrbart? Er sah lächerlich aus.
Nicht lächerlich war die übergroße Taschenuhr, die in Saschas Hand pendelte. Sie war so gewaltig, dass Andreas die bronzenen
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