Nach der Hölle links (German Edition)
dünn sind?«
Überrascht ließ Andreas sich tiefer in den Sessel sinken. Das war nicht die Antwort, mit der er gerechnet hatte und schon gar nicht die, die er in diesem Augenblick brauchte. Konnte es nicht ein Mal, ein einziges Mal um ihn gehen?
»Tja«, machte er und kam sich schäbig vor. »Ist vielleicht ein schlechter Zeitpunkt, dir etwas Unangenehmes zu sagen. Aber mein Therapeut nervt und will, dass ich es endlich anspreche.«
Jeder Herzschlag kämpfte darum, den nächsten zu überholen. Es rauschte in Andreas’ Kopf. Angst nahte und wollte ihn aus der unangenehmen Situation herausbringen. Er gestattete ihr nicht, ihn zu übernehmen. Noch nicht. Es war nur ein Satz. Danach konnte er rennen, so weit er wollte. Nach nebenan. Zu Sascha. Gott, warum hatte er ihn nicht mitgenommen? Verdammter Stolz.
»Ja?«, flüsterte Margarete.
Ihr geschlagener Gesichtsausdruck fachte Andreas’ Zorn frisch an und half ihm, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er schaffte es dennoch nicht, die Worte auszusprechen, die er sich zurechtgelegt hatte. Er hatte sagen wollen: »Ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Ich bin schwul. Und nein, das ist nicht der Grund für meine Krankheit.« Drei Sätze, die alles ausdrückten, was er zu dem Thema zu sagen hatte.
Mit dem Gedanken an Sascha ging er das Problem von einer anderen Seite an. »Du erinnerst dich an den Jungen, wegen dem ihr die Bewachungsanlagen installiert habt?«
Ein merkwürdiger Ausdruck trat auf Margaretes Gesicht; halb Erleichterung, halb erboste Verwirrung, als störe es sie, dass ein fremder Schatten in die Bibliothek getreten war.
»Sicher«, gab sie zurück. »Du warst sehr wütend, dass wir ihm nichts davon erzählt haben, wo du bist.«
»Genau«, nickte Andreas. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und starrte seiner Mutter ins Gesicht. »Er heißt Sascha. Sascha Suhrkamp. Er ist der Neffe der Holmes’. Und er ist nicht nur der einzige Mensch gewesen, der sich damals für mich interessiert hat, er ist mein Freund. Damals schon – und jetzt glücklicherweise wieder. Und wenn ich Freund sage, meine ich …«, er reckte den Hals, »… mein Partner, Lebensgefährte, Lover. Nenn es, wie du willst.«
Die Katze war aus dem Sack. Liebend gern wäre Andreas seinen Worten hinterhergehechtet, um sie einzufangen und sich in den Mund zurückzustopfen. Sie vergifteten die Luft und machten das Atmen schwer. Sie waren zu klar und gleißend für das gemütliche Halbdunkel. Fast fürchtete Andreas, sie wären so scharf, dass sie die Ledereinbände der Bücher in Fetzen schneiden würden.
Margarete schwieg. Ob sie sich der bohrenden Blicke ihres Sohns bewusst war, vermochte Andreas nicht zu sagen.
Kaum, dass er den Impuls überwunden hatte, »April April« zu rufen, kochte die Wut in ihm hoch. Es war, als wäre in seinem Inneren eine Waage. Das linke Gewicht war Angst, das rechte Zorn. Die Waagschalen suchten nach einem Gleichgewicht und fanden es nicht. Andreas wollte seine Mutter schütteln, sie auffordern, nur dieses eine Mal Stellung zu seinem Leben zu nehmen. Stattdessen begann sie zu weinen; mit aufgerichtetem Rücken und dunklen Spuren auf den Wangen, weil der Mascara sich unter ihren Tränen auflöste. Sie gab keinen Laut von sich.
Andreas wurde eiskalt. Er hatte mit vielem gerechnet. Mit Ekel, mit Unverständnis, gezwungener Toleranz, mit einer Reaktion, die ahnen ließ, dass seine Mutter eine bequeme Erklärung für seine Krankheit gefunden hatte. Tränen hatten nicht auf der Liste der möglichen Erwiderungen gestanden.
»Gut, dann wäre das ja wohl geklärt«, presste er hervor. Innerlich schrie er nach Sascha. Nur der Gedanke an ihn hielt Andreas aufrecht. »Wenn es dich so erschüttert, dass dein verdrehter Sohn nun auch noch schwul ist, haue ich besser ab.«
Er stand bereits, als Margaretes lautes »Nein!« ihn zurück in den Sessel stieß.
»Nein«, gellte es erneut mit überschlagender Stimme. »Geh nicht weg. Andreas, ich bitte dich. Es ist doch nur … eine Überraschung. Und ich weine nicht, weil du schwul bist. Ich verspreche es dir. Ich meine, es ist seltsam, aber ich … ich habe es nur nicht gewusst. Und ich hätte es wissen müssen, oder?«, schoss es einem Wasserschwall gleich aus ihr hervor. »Mütter sollten so etwas von ihren Kindern wissen. Und Mütter sollten begreifen, dass ihre Kinder krank sind und sich nicht einreden lassen, dass die Zeit alles regeln wird.«
Andreas’ Finger suchten Halt an den Lehnen des
Weitere Kostenlose Bücher