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Nach der Hölle links (German Edition)

Nach der Hölle links (German Edition)

Titel: Nach der Hölle links (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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Operation warten musste. Auch die Vorstellung, durch die endlosen Flure zum Parkplatz, mit dem Auto nach Hause und dort in den vierten Stock zu kommen, schien utopisch.
    »Du kannst aber auch nicht die ganze Nacht bleiben.« Sascha klang so vernünftig, dass Andreas am liebsten geheult hätte. »Ich weiß gar nicht, ob du das darfst. Und es bringt niemandem etwas, wenn du zusammenklappst.«
    »Aber was, wenn sie stirbt und ich nicht hier bin?«, wollte Andreas fragen. Er brachte den Satz nicht über die Lippen. Seine Mutter durfte nicht sterben. Sie war immer da gewesen – mehr oder weniger. Trotz aller Fehler, allen Versagens hatte er sie lieb und wollte nicht, dass sie ging. Er brauchte sie doch noch, hatte sie immer gebraucht.
    Andreas konnte nicht weinen, obwohl ihm danach zumute war. Seine Furcht wurde von Hilflosigkeit überschattet. Diese wiederum wurde vom Schock in Grund und Bogen gestampft, nur um von einem Gefühl niederschmetternder Hoffnungslosigkeit überflügelt zu werden. Die Tränen hingen in seinem Kehlkopf fest; kein Durchkommen, keine Erlösung.
    Tanja tauchte einen unbestimmten Zeitraum später auf. Sie schwebte durch den Korridor wie ein blonder Engel der Barmherzigkeit mit milden Augen und einem unpassend wirkenden Armband aus Fimo-Perlen. Sie war älter, als Andreas sie in Erinnerung hatte, aber nicht weniger herzlich. Als Kind hatte er sich gewünscht, dass sie seine Mutter sei.
    Was war er nur für ein Drecksack gewesen.
    »Himmel«, sagte sie, als Sascha ihr entgegen kam, und umarmte ihre Neffen innig. Dann steuerte sie auf Andreas zu und begrüßte ihn mit einem nervösen Lächeln. Ihr war anzusehen, dass sie ihn am liebsten gepackt und festgehalten hätte. Vielleicht wäre ihm das sogar recht gewesen.
    »Es ist lange her«, sagte sie leise und kauerte sich vor ihn hin.
    Scheu nickte Andreas. Sie hatte recht. Zehn Jahre – oder sogar schon fünfzehn? Tanja war noch sehr jung gewesen, als sie drüben einzog; nicht viel älter als er heute war. Dennoch war sie ihm erwachsen vorgekommen – weil jedes Kind Personen über 20 als Erwachsene wahrnahm. Er selbst fühlte sich gerade kein Stück erwachsen.
    Tanja tauschte einen Blick mit Sascha aus, der sacht den Kopf schüttelte. Keine Neuigkeiten, hieß das. Sie presste die Lippen aufeinander, bevor sie einen Stoffbeutel von der Schulter nahm und ihn auf den leeren Platz neben Andreas stellte.
    »Ich habe euch ein paar Sachen zusammengesucht. Etwas zu trinken, ein bisschen Nervennahrung, Kopfschmerztabletten und Taschentücher.«
    Andreas schielte zu ihr hoch und fragte sich, ob sie ernsthaft glaubte, dass er jetzt essen konnte.
    Tanja wandte sich an ihren Neffen. »Du bleibst hier?« Es klang nach einer rhetorischen Frage.
    »Selbstverständlich«, gab Sascha nahezu entrüstet zurück.
    Durch den Nebel in Andreas’ Kopf fühlte er sich bemüßigt zu sagen: »Musst du nicht.« Zeitgleich schrie alles in ihm: »Hast du jetzt endgültig den Verstand verloren? Warum willst du ihn fortschicken? Ohne ihn bist du verloren!«
    Es war der Impuls, es allein schaffen zu wollen, der Andreas sprechen ließ – und Angst, vor Sascha zusammenzubrechen, wenn schlechte Nachrichten kamen. Warum nur konnte er nicht klar denken? Er versuchte sich zu sagen, dass seine Mutter in den besten Händen war, dass eine Operation am Kopf seine Zeit brauchte und dass es gut war, wenn die Ärzte ruhig und ordentlich arbeiteten. Doch er hatte einfach so schreckliche Angst um sie.
    »Du spinnst ja, wenn du denkst, ich lasse dich hier allein sitzen«, erwiderte Sascha lapidar und nahm mit verschränkten Armen wieder seinen Platz ein. Er wirkte nicht, als gedenke er, in naher Zukunft noch einmal aufzustehen.
    Andreas war einmal mehr nach Weinen zumute.
    Panik wogte über ihn hinweg und forderte seine Aufmerksamkeit ein, sodass er weder hörte, was Tante und Neffe besprachen noch wahrnahm, wie Tanja sich von ihm verabschiedete. Stattdessen fesselte ihn der Anblick eines Arztes, der durch den Flur hetzte, aber nicht bei ihnen stehen blieb. Leider oder zum Glück.
    Dann waren sie wieder allein. Seltsamerweise ging es Andreas dadurch besser, insofern man in seiner Situation davon reden konnte. Es war eine Form von Verbesserung, die dem Unterschied zwischen Cholera und einer akuten Darmentzündung entsprach.
    Angst. Mama. Papa, wo bist du? Angst. Kann nicht mehr. Angst. Und was, wenn zu der Angst die echte Phobie kommt?
    Doch sie kam nicht. Möglicherweise lauerte sie in einer Ecke

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