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Nach der Hölle links (German Edition)

Nach der Hölle links (German Edition)

Titel: Nach der Hölle links (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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Eigennutz. Ich habe Hunger.«
    Diese Antwort schien ihm sinnvoller, als Andreas zu erzählen, dass er sich wie eine Mutter um ihn kümmern würde; wenn nötig, auch gegen dessen Willen.
    Nein, das konnte er ihm nicht antun. Sie waren nicht in der Position, in der er ein Recht auf Fürsorge hatte. Wenn er es übertrieb, erniedrigte er Andreas nur.
    »Essen, und das andere auch«, antwortete der Hausherr mit belegter Stimme. Er konnte Sascha nicht in die Augen sehen. »Du musst nicht hier sein.«
    »Ich weiß. Geh auf die Couch, bis ich mit dem Essen fertig bin. Und nimm das hier mit.« Sascha deutete auf die Wasserflasche, die er im untersten Fach des Kühlschranks aufgestöbert hatte.
    Andreas betrachtete den Kunststoff mit dem weißen Etikett befremdlich, bevor er gestand: »Ich will nichts essen.«
    »Ich weiß«, wiederholte Sascha, hielt in seinen Bemühungen jedoch nicht inne. Sie würden sehen, ob es Andreas’ Magen nicht doch nach Nahrung verlangte, wenn der Auflauf erst duftend vor ihm auf dem Tisch stand.
    Während Sascha die Mysterien der fremden Küche erkundete – er wollte nicht hinter Andreas herlaufen und ihn nach profanen Dingen wie Salz fragen –, spürte er, wie er selbst zur Ruhe kam. War es wirklich erst einen halben Tag her, dass er mit Tanja auf der Terrasse gefrühstückt und ihr sein Leid geklagt hatte? Der Morgen schien so fern.
    Die endlosen Stunden auf dem Krankenhausflur saßen selbst ihm in den Knochen. Zwischenzeitlich hatte er sich wie ein Zuschauer einer Krankenhausserie gefühlt. Er litt mit Andreas, der an seiner Seite in sich zusammenschrumpfte, als man sie bat zu warten.
    Dessen Familie war nach Saschas Empfinden viel zu spät aufgetaucht. Nach wie vor wusste er nicht, ob er sich über das Verhalten der von Winterfelds ärgern sollte. Vielleicht war er nicht fair, wenn er dachte, dass sie Andreas zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatten. Als er hörte, dass die Mutter zeitgleich mit ihrem Sohn im Krankenhaus gelegen hatte, war er beinahe vom Stuhl gefallen. Allmählich gewann er einen Eindruck davon, was in der herrschaftlichen Villa über die Jahrzehnte alles schief gegangen war.
    Der Psychologie-Student in ihm analysierte die Situation und kam zu dem Schluss, dass bei den von Winterfelds vieles im Argen lag – nicht nur Andreas’ Gesundheitszustand, der zu lange unbeachtet geblieben war. Der Mensch in ihm aber war noch genauso wütend wie der Achtzehnjährige, der damals hilflos mit ansehen musste, wie sein Freund vor die Hunde ging.
    Er hatte die Verzweiflung der älteren Männer in ihren Mienen gesehen und gewusst, dass sie der Unfall nicht kalt ließ. Gerade der Großvater schien erschüttert zu sein und mit sich selbst zu hadern. So sehr, dass er nicht darüber nachdachte, was er redete und Andreas’ Situation dadurch verkomplizierte.
    Sascha schämte sich nicht, dass er den Streit zwischen Richard und dessen Schwiegervater belauscht hatte. Auch, wenn er Verständnis für ihre blank liegenden Nerven hatte, fand er ihr Verhalten unpassend. Margarete wäre sicherlich nicht glücklich gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Vater und ihr Mann sich gegenseitig mit Schuldzuweisungen überhäuften, während sie operiert wurde. Davon, dass sie keinerlei Rücksicht auf ihr einziges Kind nahmen, ganz zu schweigen.
    Natürlich stand Andreas zurzeit nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Aber wann hatte er das je getan? Sascha gewann zunehmend den Eindruck, dass Andreas sein ganzes Leben lang zurückgesteckt hatte. Und weil er sich verboten hatte, seinen Teil an Aufmerksamkeit und Zuneigung einzufordern, hatte sein Umfeld sich daran gewöhnt, dass er sich hinten anstellte. Das war grausam, aber letztendlich menschlich.
    Der Scheibenkäse schmolz zu einer unschönen Schicht zusammen, während Sascha sich auf die Suche nach Tellern und Besteck machte. Als er ein paar Minuten später ins Wohnzimmer kam, saß Andreas in derselben Haltung auf der Couch, die er im Krankenhaus eingenommen hat. Den Oberkörper vornüber gebeugt, den Blick nach unten gerichtet. Er sah lausig aus.
    Sascha wollte wieder seine Hand nehmen und ihm sagen, dass er sich keine Sorgen machen sollte; dass seine Mutter gesund werden würde. Er wollte ihm versprechen, dass er Tag und Nacht auf ihn zählen konnte. Stattdessen stellte er den Auflauf auf den Tisch und erklärte behutsam: »Du solltest versuchen, etwas zu essen. Jede Nudel zählt.«
    Ein Blick zur Wasserflasche verriet ihm, dass Andreas getrunken hatte.

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