Nach Norden, Strolch
nickte. »Die Möglichkeit besteht. Du mußt verstehen. Sie kann ja nicht glauben, daß ihr Vater einen Mord begangen hat; vielleicht kommt sie plötzlich auf den Gedanken, meine Verhaftung werde ihren Vater vor der Schande retten. Pst!« Er hob warnend den Finger.
Auf dem Vorplatz war ein Telefon. Sie hörten Miss Ellens Stimme.. Robin schlich sich zur geschlossenen Tür und horchte.
»Doktor Soeur? Würden Sie bitte sofort herkommen. Mein Vater ist nach Hause gekommen und plötzlich erkrankt … Ja, mein Vater; er war - in Europa.«
Man hörte das Einhängen des Hörers. Robin war aber bereits wieder auf Zehenspitzen in die Mitte des Zimmers gegangen, als Miss Ellen die Tür öffnete. Ihr Gesicht war sehr weiß, aber sie hatte ihr Gleichgewicht wiedererlangt. Sie schloß die Tür hinter sich, hielt unterwegs an, um die Tischdecke auf einem der vielen kleinen Tische, die im Zimmer herumstanden, zu glätten.
»Mr. Leslie -«
»Beausere, aber Leslie tut’s auch«, erwiderte er.
»Ich möchte, daß Sie mir die Wahrheit über meinen Vater und über Sie sagen.« Ihre stumpfen Augen wandten sich dem Mädchen zu, und die Trauer in ihrer Stimme brachte Oktober beinahe zum Weinen. »Ich bin ganz allein auf der Welt«, sagte sie. »Eine einsamere Frau gibt es überhaupt nicht, und ich habe niemand, den ich um Rat oder Hilfe bitten kann. Wollen Sie das, bitte, nicht vergessen.«
Robin nickte. »Ich werde Ihnen alles erzählen«, sagte er.
Einen Augenblick lang überlegte sich Oktober, ob jenes ›alles‹ nicht mehr sein würde, als sie selbst wußte. Aber er sagte nichts von seinem Leben vor der Trauung. Er bat Oktober nur um ihre Bestätigung, als er von der Zeremonie selbst sprach. Danach fuhr er fort, ohne sich wieder auf sie zu beziehen. Miss Ellen hat sich steif auf den Rand eines Stuhls gesetzt und ihre Hände im Schoß gefaltet. Mit ihren blassen, blauen Augen sah sie ihn fragend an. Sie hörte ohne Unterbrechung zu, bis er endete.
»Sie sind der Meinung, daß kein Zweifel daran besteht?« Sie schüttelte selber den Kopf, ohne seine Erwiderung abzuwarten. »Ich bin froh - ich bin froh, daß er ihn umgebracht hat!« sagte sie atemlos. »Wie es nur möglich ist, so böse und grausam gegen einen alten Mann zu sein!« Sie schauderte. »Grauenvoll … Er hat meinen Vater wahnsinnig gemacht. Er war so eine zarte Seele - so ein lieber, zarter Mensch!«
Mit einer Willenskraft, über die Robin nur staunen konnte, beherrschte sie ihre zitternden Lippen.
»Er war Universitätsprofessor für Anatomie; außerdem hatte er eine Praxis - als Facharzt. Meine Mutter war Amerikanerin. Dies Haus hier war ihr Eigentum - sie hinterließ ein kleines Legat, das mir ermöglichte, das Haus zu führen, bis mein Vater zurückkam. Sie war überzeugt davon, daß er zurückkommen würde. Vor ungefähr dreißig Jahren lernte mein Vater einen englischen Peer kennen - den Marquis von Dearford. Er war geschäftlich in Toronto. Er hatte eine Tochter, ein sehr kluges Mädchen, das sich aber als sehr herzlos erwies. Meine Mutter sagte mir, sie sei häßlich gewesen, aber unerhört klug. Ich habe sie nie gesehen. Jedenfalls war sie intelligent genug, meinen Vater so zu faszinieren - daß er sein Heim vergaß, seinen Ruf, kurz alles. Er war bereit, mit dieser Lady Georgina davonzugehen, schickte sogar meiner Mutter einen Brief und bat darin um Verzeihung. Aber dann entdeckte er, daß sie ihn zum besten gehalten hatte. Anscheinend hatte sie geglaubt, er sei sehr reich. Es war alles schrecklich gemein und grauenvoll. Wir haben meinen Vater nie wiedergesehen! Später erhielten wir einen Brief, in dem er uns bat, ihn zu vergessen. Sie hat bald darauf geheiratet - das haben wir im ›Globe‹ gelesen sie kommt oft nach Kanada, und einmal habe ich eine Fotografie von ihr in der Zeitung gesehen: eine Frau mit dem Gesicht eines Habichts.«
Sie beschrieb dann das geschehene Wunder. Sie und die alte Frau waren im Garten gewesen, als der Zug vorbeigerattert kam, und sie hatten mehr gehört als gesehen, wie der alte Mann vom Dach eines Waggons geworfen wurde, auf dem ihn ein wachsamer Bremser entdeckt hatte.
»Wir schleiften ihn ins Haus. Erst als er seine Augen öffnete und mich beim Namen meiner lieben Mutter nannte, hab’ ich ihn wiedererkannt. Mr. Leslie, was soll ich denn tun?«
»Gar nichts sollen Sie tun. Haben Sie nach dem Arzt geschickt? Sagen Sie, Ihr Vater schläft, und Sie wollen ihn nicht stören. Kein Arzt kann ihm im Augenblick helfen.
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