Nach Santiago - wohin sonst
diesmal ist es ein älterer Bauer aus dem Dorf, der Licht im Refugio gesehen hat, und auch nur Grüß Gott sagen wollte!
Dieser erste Tag nach dem langen Intermezzo hat es richtig in sich, ich schlafe glücklich und zufrieden ein, nicht jedoch ohne vorher noch an Ajiz gedacht zu haben...
Donnerstag, 6. April Azofra — Belorado
„Mensch, ein echter Pilger!“
Der Morgen beginnt, wie der Abend geendet hat. Der Pfarrer kommt kurz vorbei, um sich zu verabschieden, und Maria nimmt den Schlüssel fürs Refugio wieder in Empfang. Der Rucksack ist gepackt, die Schuhe gelüftet, der Camino wartet. Aber nicht nur er. Am Dorfausgang wartet schon der Bauer vom Vorabend vor seinem Haus auf mich, mit einer Flasche Wein in der Hand. Er besteht mit Nachdruck darauf, daß ich mit ihm — zur Stärkung — noch ein Glas trinke. Es ist zwar nicht meine Art, den Tag mit einem Glas Wein zu beginnen, aber in dem Moment kann und will ich nicht ablehnen. Die Gastfreundschaft und Herzlichkeit, die ich in diesem Dorf erfahren habe, ist überwältigend!
In dieser Stimmung vergeht der Vormittag wie im Flug. Der Himmel ist leicht bewölkt, die Temperatur ideal zum Gehen. Der Weg schlängelt sich, sanft ansteigend und fallend, durch Wiesen und Weinfelder. Die Straßen und ihre Bewohner, die Automonster, sind weit, nur selten erblicke ich ein Gehöft am Horizont. Bei einem dieser Höfe decke ich mich wieder mit Wein ein, denn mit Hilfe des Pfarrers hat die Flasche Rosé von Marias Bruder den Abend nicht überlebt.
Schon zu Mittag bin ich im berühmten Santo Domingo de la Calzada. Das Städtchen wurde nach dem Mönch und Ingenieur benannt, der schon zu Beginn des 11. Jahrhunderts Wege und Straßen — deshalb „Calzada“ — für die Jakobspilger in dieser Region errichtete. Berühmt ist der Ort aber vor allem wegen des „Hühnerwunders“, das sich hier ereignet haben soll. Eine Familie aus deutschen Landen, bestehend aus den Eltern und ihrem Sohn, einem feschen Jüngling, übernachtete auf Pilgerfahrt nach Santiago in der Herberge von Santo Domingo, deren Wirt eine nicht unhübsche Tochter hatte. Derselben gefiel der wohlgewachsene Jüngling gar und sie machte ihm ein ziemlich eindeutiges Angebot für die gemeinsame Gestaltung der Nacht. Was dieser als keuscher Jakobspilger entrüstet ablehnte. Das in seinem Stolz tief verletzte Mädchen versteckte daraufhin am nächsten Morgen einen silbernen Becher ihres Vaters im Reisesack des jungen Pilgers und bezichtigte ihn — die Familie wollte gerade aufbrechen — des Diebstahls. Man fand das wertvolle Stück, glaubte natürlich mehr der Einheimischen als dem Fremden und verurteilte diesen zum Tod durch den Strang. Das Urteil wurde sofort vollstreckt, die Eltern mußten alleine weiter gen Santiago ziehen. Doch zu ihrer ungeheuren Überraschung, als sie bei ihrer Rückkehr am Leichnam ihres Sohnes beten wollten, hing er immer noch am Galgen und rief ihnen zu, man möge ihn endlich herunternehmen, Sankt Jakobus habe ihn die ganze Zeit auf den Schultern getragen, weil er ja unschuldig sei. Der Richter, zu dem sie aisgleich eilten, saß gerade beim Mittagessen, man hatte ihm zwei knusprig gebratene Hähnchen serviert, und wollte die Geschichte vom lebendigen Gehängten natürlich nicht glauben. Er lachte nur kurz und erwiderte, dann müßten ja die Hähnchen vor ihm auf dem Teller auch noch leben. Worauf sich diese flatternd und gackernd erhoben und in Sicherheit brachten. Somit war die Unschuld des Burschen doppelt erwiesen, er konnte mit seinen Eltern heimziehen, und an seiner Statt wurden der betrügerische Wirt und seine Tochter gehängt.
Seither — und das ist immerhin schon an die 700 Jahre her — werden in der Kathedrale von Santo Domingo de la Calzada in einem Käfig zwei lebende Hühner gehalten, und es wird berichtet, daß heute noch so mancher Pilger (heimlich) eine Feder rupft, als Talisman für eine gesunde Rückkehr in die Heimat.
Nun, ich tu’ das nicht — die armen gerupften Hühner! — , aber natürlich besuche ich die auch sonst eindrucksvolle romanische Kathedrale, es liegt ja hier auch der heilige Domingo begraben. Ich betrete in voller Pilgerausrüstung, das heißt mit Rucksack, Stock und Hut, die Kathedrale durch das Hauptportal, das sich knarrend hinter mir schließt. Vor mir erblicke ich eine Busladung deutscher Touristen, die gerade den Sarkophag des Heiligen und den Hühnerkäfig photographieren bzw. filmen. Das Knarren des Portals läßt einen von ihnen sich
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