Nachhilfe in Erster Liebe
Winter. Marie, Siri, Patricia und ich sitzen dick vermummt mit Schals und Anoraks auf dem kleinen Mäuerchen in der Ecke des Pausenhofs. Es ist gerade groß genug für uns vier. Endlich hatten wir mal pünktlich Unterrichtsschluss und waren bei den Ersten, die zur großen Pause das Mäuerchen besetzen konnten. Das ist nämlich ziemlich begehrt, weil man von dort einen tollen Überblick über alle und alles hat, was so auf dem Schulhof vor sich geht, aber selbst kaum von den anderen gesehen werden kann.
Als die Mädels von der Neunten uns sehen, machen sie ziemlich saure Gesichter, weil sie sonst meistens auf dem Mäuerchen sitzen. Ihr Klassenzimmer ist das erste im Flur, deshalb sind sie auch fast immer als erste draußen. Aber freiwillig räumen wir diesen Spitzenspitzelplatz heute nicht. Wir tun so, als sähen wir die Zicken gar nicht, und beißen genüsslich in unsere Brote.
Als die Neuner es dann endlich kapiert und sich verzogen haben, gibt’s für uns nur ein Thema: Jungs. Wir haben schließlich freie Aussicht von unserem Mäuerchen aus und
tun so, als hätten wir auch freie Auswahl. Wir überlegen, wer würde uns gut gefallen, wen finden wir so richtig schnuckelig, wer geht uns auf die Nerven, wer ist völlig indiskutabel und so weiter.
Siri findet natürlich, dass bei Weitem keiner an Jan rankommt.
»Seine blauen Augen sind wie ein See an einem total schönen Sommertag, in den man reinfallen und nicht mehr auftauchen möchte«, seufzt sie.
»Ich weiß nicht, was an Ertrinken toll sein soll«, meint Marie trocken und bekommt von Siri einen Schubs. Marie grinst nur. Alle fragen sich oft, warum ausgerechnet die beiden beste Freundinnen sind, wo sie doch so unterschiedlich sind. Aber ich glaube, gerade deshalb sind sie’s. Siri macht Marie von Zeit zu Zeit klar, dass sie kein Junge ist und es außer Fußball noch was anderes gibt, und Marie holt Siri immer dann auf die Erde zurück, wenn sie mal wieder in ihren Prinzessinnenträumen versinkt.
»Ich mein das ja nur so … poetisch«, versucht Siri zu erklären.
»Ich weiß, was du meinst«, hilft ihr Patricia, »aber was hast du von schönen Seeaugen, wenn die restlichen 99 Prozent von ihm gar nichts sind?«
»Das gilt ja wohl nicht für Jan«, regt sich Siri sofort auf.
Patricia nickt. »Schon klar. Aber stell dir mal vor, jemand will nur wegen deiner Schneewittchenhaare was von dir und der Rest interessiert ihn gar nicht.«
Jetzt mische ich mich auch ein. Nach meiner neuen Erkenntnis über Jan kann ich Patricia nur bestätigen.
»Äußerlichkeiten sind total unwichtig«, murmle ich in mein Käsebrot. Patricia mustert mich misstrauisch. »Jans hellblaue Augen waren dir bisher doch auch nicht egal.«
Ich bin so cool, dass ich das inzwischen sogar zugeben kann.
»Augenfarben waren gestern. Heute zählt nur das Innenleben. «
»Du redest wie mein Vater, wenn er uns von seiner Jugend in den Siebzigern vorschwärmt«, ist Marie verblüfft. »Da ging’s angeblich auch immer ums Reden und die inneren Werte.«
»Ich werde eben reifer«, grinse ich.
»Wenn das so rasant weitergeht, seid ihr bald Zwillinge, mein Vater und du«, frotzelt Marie, gibt mir dann aber doch recht. Ihr sind Äußerlichkeiten nämlich sowieso egal.
»Hauptsache, er ist keine Sesselfritte.«
Das ist Maries persönliche Übersetzung von »couch potatoe«, also Sofakartoffel eigentlich. Sesselfritte ist aber viel witziger, finde ich. Aber Marie ist ja auch witziger als die meisten.
Siri will auf jeden Fall die gleiche Musik hören wie ihr Wunschprinz und die gleichen Bücher lesen und die gleichen Filme mögen und überhaupt alles teilen und immer alles zusammen machen. »Wenn die Wellenlänge stimmt, stimmt nämlich auch alles andere«, ist sie überzeugt.
Komisch, dass sie dann ausgerechnet auf Jan abfährt. Zwischen seinem Motto »Es lebe der Sport« und Siris »Sport ist Mord« besteht doch ein gewisser Unterschied. Aber ich hüte mich, jetzt wieder das Thema Jan anzuschneiden, und bin stattdessen lieber still.
Patricia erklärt uns gerade, dass sie vor allem jemanden will, der ehrlich ist. So wie sie selbst. »Und mit dem man richtig streiten kann.«
Ich weiß, was sie meint. Bei uns beiden sind schon oft die Fetzen geflogen, auch wenn wir befreundet sind. Oder vielleicht gerade deshalb. Bei Patricia muss nämlich alles sofort raus, was sie stört. Sie kann dann aber auch ertragen, wenn man sich was nicht gefallen lässt und zurückgiftet. Was sie dagegen gar nicht gut
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