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Charly abholen und nach New York zurückkehren, um Weihnachten mit Francesca zu feiern.
Diese Perspektive war tröstlich. Er erinnerte sich an einen Satz, den einer seiner Kollegen gesagt hatte: Ein Baum ohne Wurzeln ist nur ein totes Stück Holz. Er brauchte eine Grundlage, um nicht den Halt zu verlieren. Doch Francescas Bild verblich hinter dem von Madeline. Sie hatte sicher recht: Ihre Geschichte besaß noch kein solides Fundament. Und dennoch …
Dennoch war er unfähig, der Stimme der Vernunft zu folgen. Ohne zu überlegen, zog er seinen Stift aus der Tasche und begann, etwas auf das Papierset zu kritzeln. Nach einigen Minuten wurde ihm bewusst, dass er ein Dessert kreiert hatte, das der jungen Engländerin entsprach: Blätterteig mit leichter Rosen-Veilchencreme, karamellisiert mit tunesischen Orangen. Er war selbst ganz erstaunt. Vor zwei Jahren war seine Kreativität erloschen, und er hatte seitdem kein einziges Gericht erfunden. Heute war die Blockade gebrochen, und die Liebe inspirierte ihn wieder.
Diese Aussicht machte ihm Mut und gab ihm Vertrauen in die Zukunft. Warum sollte er nicht in New York ein Restaurant mit einer kleinen Kochschule eröffnen? Endlich ein Projekt, das Sinn hatte.
Jonathan hatte aus seinen Fehlern gelernt und würde sie nicht ein zweites Mal wiederholen. Vorbei der Jahrmarkt der Eitelkeiten, die Sucht nach Medienrummel und die Jagd nach Sternen. Er dachte an ein Restaurant mit Atmosphäre, mit einer originellen und ehrgeizigen Küche, aber ohne luxuriöses Dekor. Schluss mit den Kristallgläsern und dem Designer-Porzellan. Nie wieder würde er seinen Namen für Nebenprodukte oder Tiefkühlgerichte hergeben, die in Supermärkten verkauft wurden. Ab jetzt würde er seinen Beruf wie ein Handwerk ausüben, mit dem einzigen Ziel, sich selbst und dem Gast Freude zu bereiten.
Als er das Lokal verließ, keimte neue Hoffnung in ihm auf. Aber er wusste, dass diese Zukunft von Alice Dixons Überleben abhing. Wo wäre er heute, wenn er nicht diesem Mädchen begegnet wäre? Ohne Zweifel sechs Fuß unter der Erde. Ihr verdankte er sein Leben: Das war die größte Schuldenlast, die er jemals würde begleichen müssen. Und dazu war er fest entschlossen.
Achtzehn Uhr. Die Bilder von Alices Gefangenschaft ließen ihn nicht mehr los. Alles war wirr. Er versuchte, sich an ihre letzten Worte zu erinnern, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er ging die 20th Street hinauf. Es begann zu dämmern. Trotz der beißenden Kälte lief er weiter durch die Straßen und dachte über Alices unglaubliches Schicksal nach. Über ihr Leben, das sie geführt hatte wie einen Kampf. Über die Charakterstärke, die sie gebraucht hatte, um sich von ihren Ketten zu befreien und ihr Dasein selbst in die Hand zu nehmen. Von frühester Jugend an hatte sie sich allein durchgeschlagen – ohne Familie, ohne Freunde – und hatte jedes Mal den härtesten Weg gewählt: Den, der aus der Mittelmäßigkeit hinausführte und sie davor bewahrte, sich von ihrem Umfeld nach unten ziehen zu lassen. Eine Art zu leben, die schon für einen Erwachsenen schwierig war, aber mit dreizehn Jahren …
Er erreichte den Osten von Chelsea. Es war inzwischen dunkel, und im Schein der Straßenlaternen wirbelte der Wind silbrige Schneeflocken auf. Angesichts der Kälte beschloss er, kurz in der berühmten Cocktail-Bar Life & Death vorbeizuschauen. Aus den Lautsprechern in den vier Ecken des Raums erklang Lounge-Musik. Jonathan mochte solche Lokale nicht wirklich, aber der Betrieb und das Stimmengewirr gaben ihm das Gefühl, weniger allein zu sein. Und die Musik hüllte ihn in eine Art Blase, die ihm half, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Alice … er musste sich auf Alice konzentrieren …
Seine Intuition sagte ihm, dass Blythe Blakes und Madelines Vorgehensweise zu nichts führen würde. Er selbst verfügte natürlich über keinerlei Möglichkeit, zu ermitteln. Er hatte seinen gesunden Menschenverstand und sein psychologisches Einfühlungsvermögen. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, verstärkte aber seine Sensibilität. Er bestellte ein zweites Glas. Als kreativer Geist war er stets von einer gewissen Intelligenz der Gefühle ausgegangen. Nach und nach wich die Barriere in seinem Gedächtnis, und der Inhalt des Videofilms fiel ihm wieder ein: Die fiebrig glänzenden Augen des Mädchens, ihre Verzweiflung, der trostlose Kerker, die Handschellen, ihre abgehackte Stimme und die Worte:
»Save me, Dad! Change your testimony,
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