Nachricht von dir
und statt des Louis-Vuitton-Gepäcks lag auf dem Stuhl neben ihr ein unförmiger Seesack.
Das Haar hatte sie zu einem Knoten zusammengefasst, aus dem sich einzelne blonde Strähnen gelöst hatten, die teilweise eine Narbe verdeckten und diesem neuen Outfit eine gewisse Feminität verliehen.
Jonathan klopfte zwei Mal leise an die Scheibe, so als wäre es eine Tür. Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, und auf der Stelle wurde ihm klar, dass die Frau, die er vor sich hatte, nichts mehr mit dem koketten hübschen Mädchen zu tun hatte, das er am Samstag zuvor getroffen hatte. Die Hauptkommissarin von Manchester hatte die Pariser Floristin verdrängt.
»Guten Abend«, sagte er und trat an ihren Tisch.
Madelines Augen waren vom Schlafmangel gerötet und glänzten vor Müdigkeit.
»Guten Abend, guten Abend … Ich weiß schon nicht mehr, wie spät es ist und welchen Tag wir heute haben …«
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte er und reichte ihr das Smartphone.
Sie kramte in ihrer Tasche und warf Jonathan dann sein Handy zu, das er auffing.
Jetzt waren sie nicht mehr allein.
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Dritter Teil
Einer für den anderen
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Kapitel 24
Was die Toten den Lebenden hinterlassen
Was die Toten den Lebenden hinterlassen […] ist gewiss ein untröstlicher Kummer, aber auch eine zusätzliche Pflicht, zu leben und den Teil des Lebens zu vollenden, von dem die Toten sich wohl haben trennen müssen, der aber intakt geblieben ist.
François Cheng,
Die allzu kurze Ewigkeit
Manchester
Kommissariat von Cheatam Bridge
4 Uhr morgens
Im Halbdunkel seines Büros versuchte Jim Flaherty, die Zusatzheizung aufzudrehen – jenes großzügige Geschenk der Verwaltung hatte offenbar den Geist aufgegeben und spie nur noch kalte Luft aus. Na egal, dann konnte er eben seinen Wollschal und seine Fleecejacke nicht ausziehen. An diesem 23. Dezember war das Kommissariat wie ausgestorben. In puncto Festnahmen war es eine ruhige Nacht gewesen. Die Kälte, die den Nordwesten Englands in eisigem Griff hatte, besaß wenigstens den Vorteil, die Kriminalitätsrate zu senken.
Ein heller Piepston kündigte die Ankunft einer E -Mail an. Jim blickte zu seinem Bildschirm, und seine Augen leuchteten auf. Es war die Nachricht, auf die er ungeduldig wartete: der Bericht des Graphologen, dem er das Foto der von Jonathan Lempereur bei ihm abgelieferten Papierserviette geschickt hatte. Der offizielle Antrag auf Bewilligung einer Analyse, den er am Vortag gestellt hatte, war unter dem Vorwand abgelehnt worden, der Fall Dixon sei abgeschlossen, und so würde die Verwaltung fortan weder Zeit noch Geld dafür opfern. Daraufhin hatte er sich für einen anderen Weg entschieden und eine Dozentin der Polizeischule kontaktiert: Mary Lodge war die ehemalige Chefin des Bereichs »Handschriftenvergleich« bei Scotland Yard. Sie arbeitete heute zu horrenden Honoraren als Beraterin, hatte sich aber bereit erklärt, ihm kostenlos diesen Dienst zu erweisen.
Gebannt las er das Gutachten durch. Die Schlussfolgerungen aus dem Bericht waren vage. Die Zeilen auf der Papierserviette könnten sehr gut von Alice stammen, die Schrift aber ändere und entwickele sich mit dem Alter. Die neuere Kalligrafie sei »reifer« als die der Stichproben aus dem Tagebuch, sodass eine eindeutige Identifizierung schwierig sei.
Jim seufzte.
Diese verdammten Experten wollen sich nie festlegen …
Ein Geräusch. Jemand stieß, ohne anzuklopfen, die Bürotür auf.
Flaherty hob den Kopf, kniff die Augen zusammen und erkannte seinen Kollegen Trevor Conrad.
»Saukalt hier«, bemerkte der junge Polizeibeamte und zog den Reißverschluss seines Blousons zu.
»Bist du fertig?«, fragte Jim.
»Das war das letzte Mal, dass ich die ganze Nacht an einer abgeschlossenen Angelegenheit für dich schufte, das verspreche ich dir. Diese Fingerabdrücke abzunehmen, war kein Kinderspiel, das kannst du mir glauben«, sagte er und hielt ihm die Plastiktüte mit dem Beweisstück, das heißt der Papierserviette mit den Schokoladenflecken, hin.
»Hast du etwas Verwertbares gefunden?«
»Auf jeden Fall habe ich wie ein Idiot gearbeitet und die Serviette mit dem Lösungsmittel DFO behandelt. Ich habe Spuren und Fragmente, doch das Ganze bleibt lückenhaft.«
Er überreichte ihm den USB -Stick, warnte ihn jedoch erneut:
»Ich habe dir alles kopiert, aber es ist das reine Chaos. Erwarte bloß nicht, einen kompletten Fingerabdruck vorzufinden.«
»Danke, Trevor.«
»Gut, ich
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