Nachruf auf eine Rose
angetroffen hatte. Das war ungerecht gegenüber Bess. Schließlich war es keine große Sache, dass sie diese Seite von ihm gesehen hatte.
«Das ist meine Schuld, Sir», sagte sie, erhob sich und setzte Bess auf den Boden. «Bess hat mir netterweise Gesellschaft geleistet. Ich hätte sie ins Bett schicken sollen.»
«Ich wollte nicht, dass sie hier ganz alleine warten muss, Papa.» Bess lief zu ihrem Vater und schlang ihre Arme um seine Beine.
«Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht mit Fremden sprechen sollst.»
«Auch nicht mit netten Fremden?»
«Nein, auch nicht. Jetzt aber ab mit dir nach oben.»
«Bringst du mich ins Bett?»
«Also schön, dann komm. Sie können gehen, Nightingale, Sie hätten nicht auf mich zu warten brauchen. Gute Nacht!»
Nightingale sah zu, wie der Chief Inspector sich bückte und seine Tochter mit einer geübten Bewegung hochhob, so dass sie ihre Arme um seinen Hals legen konnte. Sie fühlte plötzlich einen Kloß im Hals und schluckte unauffällig. Bess lächelte sie über die Schulter ihres Vaters hinweg an.
«Nacht, Nightingale», flüsterte sie.
«Gute Nacht, Bess. Schlaf gut.» Nightingale trat hinaus in die kalte Nacht und zog die Tür hinter sich fest zu.
Stunden später saß Fenwick immer noch vor seinem Computer und überarbeitete den Bericht über das Vorgehen in Beschwerdesachen ein letztes Mal. Es war kurz vor eins, doch er war immer noch hellwach. Das Haus, in dem sie wohnten, hatte er im letzten Jahr von seinem Großonkel vererbt bekommen, ein überraschendes und außerordentlich großzügiges Vermächtnis. Doch die Zinsen, die das angelegte Geld abwarf, reichten gerade für den Unterhalt des Hauses und Wendys Lohn. Auch wenn sie sich die Haare färbte, ein Nasenpiercing trug und ständig zu spät kam, war Wendy ein zuverlässiges Kindermädchen. Als sie hierher aufs Land gezogen waren, hatte sie kein zusätzliches Fahrgeld gefordert, denn durch den Umzug war sie näher bei Tony, ihrem Freund. Sollte sie je kündigen, würde Fenwick sich einen gleichwertigen Ersatz kaum leisten können.
Als allein erziehender Vater war er ständig darum bemüht, die Kinder dafür zu entschädigen, dass sie ohne Mutter aufwachsen mussten. Seitdem sie ihre Mutter durch einen Selbstmordversuch verloren hatten, bei dem sie in ein irreversibles Koma gefallen war, hatte er alles getan, was in seiner Macht stand, damit sie das schreckliche Erlebnis vergessen sollten. Alles hatte er getan. Nur seine Arbeit hatte er nicht aufgegeben, denn das konnten sie sich nicht leisten. Wenn er sich je zwischen seiner Karriere und den Kindern würde entscheiden müssen, würde die Wahl immer zugunsten der Kinder ausfallen. Er hoffte jedoch, dass er nie vor diese Wahl gestellt werden würde. Er klappte den Ordner zu, schaltete den PC aus und ging in die Küche, um sich vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee zu bereiten.
12B 6
Am Tag nachdem er Harper-Brown seinen Bericht vorgelegt hatte, erhielt Fenwick einen Anruf des Assistant Chief Constable, der Alan Wainwrights Tod zum Anlass hatte. Die Öffentlichkeit hatte großes Interesse an den Ermittlungen, und der Chief war bestrebt, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen und zu den Akten zu legen. Die Ermittlungen waren damals von Detective Inspector Blite – einem Kollegen, dem sie beide weder Sympathie noch Vertrauen entgegenbrachten – in relativ kurzer Zeit durchgeführt worden, und der Bericht des Coroner hatte «Selbsttötung» als Todesursache bestätigt. Dass Harper-Brown ihn nun, zwei Monate später, wegen dieses Falles anrief, ließ Fenwick nichts Gutes ahnen.
«Graham Wainwright, der Sohn des Verstorbenen, hat mich angerufen. Er äußerte Zweifel am so genannten Selbstmord seines Vaters beziehungsweise am Ergebnis der Leichenschau.»
«Hat er diese Zweifel auch bei der gerichtlichen Untersuchung vorgebracht? Wenn nicht, warum kommt er jetzt damit, Sir?»
«Nein, er sagt, die Bedenken waren zu … vage, um sie öffentlich zu formulieren. Außerdem wurde der Tod seines Vaters von den Medien schon genug ausgeschlachtet.»
«Aha.» Man musste kein Geistesriese sein, um zu erkennen, warum der Assistant Chief Constable ihn gerade jetzt anrief. Harper-Brown war zu klug, seine Abneigung gegen Fenwick deutlich zu zeigen. Wann immer sich ihm jedoch die Gelegenheit bot, teilte er Fenwick die Fälle zu, die sich als besonders heikel oder karriereschädigend herausstellen könnten. Er übertrug ihm die unmögliche Aufgabe, einem
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